von Rabbiner Yaron Engelmayer
Als Karl Marx mit Friedrich Engels im Jahre 1848 das Kommunistische Manifest schrieb und zum Klassenkampf aufrief, hat er sich da vielleicht an einem anderen Manifest orientiert? Einem Manifest, das über 3.000 Jahre vor ihm ebenfalls von einem Juden formuliert wurde, nämlich von Korach! Der tritt in unserem Wochenabschnitt mit seinen Anhängern vor Mosche und Aharon und greift sie mit folgenden Worten an: »Zu viel für euch! Denn die ganze Gemeinde sind lauter Heilige, und unter ihnen ist der Ewige, und warum erhebt ihr euch über die Gemeinde des Ewigen?« (4. Buch Moses 16,3). Auch Korach lehnt sich gegen bestehende gesellschaftliche Hierarchien auf. Wieso sollten Mosche und Aharon besser sein als alle anderen? Hat nicht das ganze jüdische Volk die Stimme G’ttes am Berg Sinai vernommen, hat G’tt nicht etwa zu allen gesprochen? Es sind doch alle heilig!
Zugegeben, die Argumentation Korachs entspricht nicht gerade derjenigen von Marx. Doch im Grunde will er dasselbe erreichen: eine Aufhebung der gesellschaftlichen Unterschiede. Korach greift Mosche und Aharon nicht nur in sozialphilosophischer, sondern auch in wirtschaftlicher Hinsicht an. Laut Midrasch erzählt er folgende Parabel: Eine arme Witwe besaß ein Feld. Als sie es pflügen wollte, verbot Mosche ihr, mit einem Ochsen und einem Esel zusammen zu pflügen. Als sie säen wollte, verbot er ihr die Bestellung mit gemischten Saaten. Zur Erntezeit verlangte er die Hebe für die Priester und den Zehnten für die Leviten. Die Frau verkaufte das Feld und kaufte Mutterschafe, in der Hoffnung, nunmehr ungestört zu bleiben. Als aber das Erstgeborene der Schafe zur Welt kam, erschien Aharon und forderte es für sich. Zur Zeit der Schafschur erschien er wieder, um »das Erste des Schaf-Vlieses« zu verlangen, das ihm nach dem Gesetz Mosches gehörte. Er erschien wieder und wieder mit neuen Forderungen, bis das gequälte Weib die Schafe schlachtete und sie in ihrem Zorn dem Heiligtum darbrachte. Daraufhin fiel alles Aharon zu. »Solche Leute sind Mosche und Aharon«, resümierte Korach. Eine solche Kritik an der bestehenden Wirtschaftsordnung, an der ungerechten Verteilung der Güter und an der Ausbeutung der Arbeiterklasse durch die führende Schicht, mit einer so simplen Darlegung der Tatsachen, hätte wohl auch Marx gut gestanden.
Korach und seine Leute werden für ihr Vorgehen auf außergewöhnliche Art und Weise bestraft: G’tt vernichtet sie mit übernatürlichen Erscheinungen. Ein Teil der Anhängerschaft Korachs wird von der Erde lebendig verschlungen, ein anderer Teil von einem himmlischen Feuer verzehrt (4. Buch Moses 16,32-35). Aber warum werden sie bestraft? Haben sie nicht recht mit ihren Argumenten? Hat nicht Mosche selbst kurz zuvor den Wunsch geäußert, das ganze Volk möge Propheten G’ttes sein und seinen Geist tragen (4. Buch Moses 11,29)?
Interessanterweise nehmen weder G’tt noch Mosche in irgendeiner Form Bezug auf Korachs Argumente. Das hat einen einfachen Grund: Korach betrieb reine Demagogie! Es war ihm nie wirklich ernst mit seinem Gerede von Gleichheit des ganzen Volkes. In Wahrheit wollte er nur eines: selbst an die Macht kommen! Seine wahren Beweggründe blieben G’tt und Mosche nicht verborgen. Deswegen antworteten sie nicht mit einem philosophischen Diskurs über Gesellschaftsformen und Weltanschauungen. Da Korach sich von ganz anderen Interessen leiten ließ, hätten ihn solche Gegenargumente nicht im Geringsten berührt und schon gar nicht überzeugen können.
Stattdessen schlug Mosche etwas ganz anderes vor: Korach sollte sich mit allen Anhängern, 250 an der Zahl, am nächsten Tag im Heiligtum einfinden, jeder mit einer Pfanne und Räucherwerk. Da würde G’tt entscheiden, wen Er zum wahren Heiligen, zum Hohepriester auserwählen will. Obwohl nur einer Hohepriester sein kann, stimmte Korach sofort zu! Wäre es ihm ernst gewesen mit seinen Argumenten, hätte er einem solchen Vorschlag nicht zustimmen können. Seine Vorstellung einer veränderten Hierarchie sah jedoch nie wirk- lich vor, dass alle gleich sein würden, sondern lediglich, dass er statt Mosche und Aharon die Führung des Volkes übernehmen würde. Dies erklärt auch, weswegen Mosche den Rebellen ihre eigenen Worte erwiderte: »Zu viel für euch!« (4. Buch Moses 16, 7).
Auch unsere Weisen durchschauten die Strategie Korachs und nennen seine Rebellion den Prototypen eines Streits, der nicht »im Namen des Himmels«, also nicht aus reinen Absichten und zur reinen Wahrheitsfindung, geführt wurde (Sprüche der Väter 5, 20). Sein Streit wurde damit zum negativen Beispiel für alle Zeiten, manche meinen sogar zu einem eigenständigen Verbot der Tora, unnötigen und von unreinen Absichten getriebenen Streit zu führen. Ja, selbst die Frau des On, Sohn des Pelet – er war einer der größten Anhänger Korachs – erkannte dies und brachte ihren Mann rechtzeitig davon ab, Korach weiter zu unterstützen, indem sie zu ihm sprach: »Welchen Nutzen hast du davon? Entweder Mosche bleibt der Herr, dann bist du sein Ge- folgsmann, oder Korach wird es, und dann bist du dessen Gefolgsmann.« Mit diesem einfachen Argument rettete sie ihren Mann vor dem Schicksal der Anhängerschaft Korachs. Hätte Korach wirklich an die Idee der Gleichheit geglaubt, wäre es vielleicht eine ernst zu nehmende Idee gewesen.
Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinde Aachen.