von Jürgen Vogt
»Mein Sohn ist der einzige männliche Verschwundene mit israelischer Staatsbürgerschaft. Als er im April 1978 verschwand, ging ich zur israelischen Botschaft, aber die Antworten waren bürokratisch: ›Wir werden sehen. Wir werden uns kümmern. Wir sind interessiert.‹ Wirkliche Hilfe war hier nicht zu erwarten.« Marcos Weinsteins Sohn Mauricio verschwand am 18. April 1978 im Alter von 18 Jahren.
Das argentinische Militär putschte sich am 24. März 1976 an die Macht. Die Diktatur dauerte bis 1983 und war die blutigste in der an Militärdiktaturen nicht armen argentinischen Geschichte. Im Bericht »Nunca Más – Nie Wieder« der Nationalen Kommission über die verschwundenen Men- schen (CoNaDeP) vom September 1984 wird die Zahl der Verhafteten mit 8.961 angegeben – eine Momentaufnahme, heißt es im Bericht ausdrücklich. Menschenrechtsorganisationen sprechen von mehr als 30.000 Verhafteten, darunter 1.900 Juden.
»Als es 1976 hieß, es käme ein Putsch, hatten wir schon eine Vorahnung«, erinnert sich Sara Rus. »Schon 1977 merkten wir, daß der Bekanntenkreis meines Sohnes in Bewegung geriet und ein Freund plötzlich verschwand. Man begann darüber zu sprechen, daß vor allem Jugendliche verschwanden. Am 15. Juli 1977 traf es ihren Sohn Daniel. Er war 28 Jahre alt.
Die jüdische Gemeinschaft in Argentinien umfaßte in den siebziger Jahren gut 250.000 Menschen. Dennoch macht ihr Anteil an der argentinischen Bevölkerung, heute rund 38 Millionen, nicht einmal ein Prozent aus. Unter den Opfern der Militärdiktatur liegt ihr Anteil mit mehr als 10 Prozent bedeutend höher. »Das Projekt der Militärs bestand nicht darin, Jugendliche, Juden oder Studenten zu verfolgen. Der Kern war die Umsetzung eines ökonomischen Projekts, des Neoliberalismus. Juden verschwanden nicht, weil sie Juden waren, sondern weil sie sich politisch und sozial engagierten,« sagt Marcos Weinstein. Zusammen mit anderen Familien hat er die Organisation der Familienangehörigen der jüdischen Verschwundenen gegründet. »Juden gingen auf die Gymnasien, die zur Universität Buenos Aires gehören. Hier verschwanden auch die meisten Schüler und Lehrer: 403 an der Carlos-Pellegrini-Schule und 103 am Colegio Nacional.« Man holte die jungen Leute, die in die Elendsviertel gingen und den Menschen dort halfen und sie unterrichteten. »Die wollten die Militärs haben«, sagt Sara Rus. Aber warum dann auch ihr Kind? »Wir kennen keinen Grund. Er arbeitete als Physiker in der Atomkommission und wurde zusammen mit 17 Kollegen verschleppt.« Sara Rus hat Auschwitz überlebt. 1948 kam sie nach Argentinien. Ihr Sohn wurde hier 1950 geboren. »Als Daniel verschwand, haben wir uns überallhin gewandt. Aber weder von den jüdischen Organisationen noch von der israelischen Botschaft erhielten wir Antwort.« Sara Rus wandte sich auch an DAIA, die politische Organisation der jüdischen Gemeinschaft in Argentinien. »Die DAIA tat nicht viel für uns. In dieser Zeit hatten alle Angst. Die Panik war so groß, daß jeder sich nur um sich selbst kümmerte.« Im Mai 1977 sagte der damalige DAIA-Präsident Nehemias Resnizky: »Unsere Feinde sollen wissen, daß wir nicht mehr die schweigenden Juden sind.« Wenige Tage später wurde sein Sohn entführt. »Nach fünf Tagen kam er wieder frei, danach verhielt sich die DAIA absolut ruhig«, erzählt Marcos Weinstein.
»Als sie die Juden und Nicht-Juden folterten, behandelten sie die Juden schlimmer. Die überlebenden Juden berichteten von Hakenkreuzen an den Wänden«, erzählt Sara Rus. Anhand des Familiennamens erkannten die Folterer die jüdische Herkunft. Marcos Weinstein: »Ab 1945 flüchteten viele Nazis aus Deutschland und anderen europäischen Ländern nach Argentinien. Viele von ihnen kamen bei den Streitkräften unter. Die verantwortlichen Militärränge der Diktatur der siebziger Jahre waren die Lehrlinge der geflohenen Nazis aus Europa. Hier wiederholte sich der Antisemitismus und Nazismus.«