von Lisa Borgemeister
Ruck für Ruck lösen sich die Schnüre. Die leuchtend rote Hakenkreuzfahne fällt in sich zusammen und liegt schließlich zerknittert auf dem Bühnenboden. Die letzten Worte sind gesagt. Die junge Frau im Faltenrock springt auf und stürzt von der Bühne. Das Licht geht an, anderthalb Stunden sind in der Frankfurter Union-Halle vergangen.
Stille. Der Beifall beginnt, zögernd. Das liegt nicht an mangelnder Qualität der Inszenierung. Es ist das Thema, das die Zuschauer in eine Art grübelnde Lähmung versetzt hat: Anne Frank und ihr Tagebuch. Nur langsam wachen sie aus der Betroffenheit auf. »Die Aufführung hat mich tief berührt«, sagt eine Frau am Ausgang und wirft einen nachdenklichen Blick zurück auf die leere Bühne. »Die Darstellerin hat das wirklich sehr authentisch rübergebracht.«
Die Darstellerin, das ist Asli Bayram, 26 Jahre alt, eine bildhübsche junge Frau. Sie liest aus dem Tagebuch der im Alter von 15 Jahren im KZ Bergen-Belsen ermordeten Jüdin. Sie macht das überzeugend. Fast ausschließlich mit Mimik und Stimme führt sie den Zuschauer in die Gefühlswelt von Anne, zeigt ihre Wut und Trauer, aber auch ihren Lebensdrang. Die eigentlich ruhige und zierliche Frau kann sich auf der Bühne stimmgewaltig entladen, beinahe explodieren, wenn sie die Verzweiflung der pubertierenden Anne Frank zum Ausdruck bringt. Sie schafft es, das Publikum in ihren Bann zu ziehen.
Seit Oktober ist Asli Bayram mit der szenischen Lesung »Anne Frank: Das Tagebuch« auf Tour. In Frankfurt, Anne Franks Geburtsstadt, hatte die Inszenierung von Regisseur Charles Muller jetzt nach Luxemburg und Prag ihre erste Station in Deutschland. Die Bühne ist spärlich dekoriert: ein Tisch, ein Stuhl, ein Bett. Am Rand leuchtet eine rote Hakenkreuzfahne. Zwischen den einzelnen Tagebucheinträgen erklingt Musik des jüdischen Komponisten Erich Wolfgang Korngold.
Dass die deutsche Tagespresse nicht nur Worte des Lobes für ihr Bühnen-Debüt fand, nimmt Asli Bayram mit einem Schulterzucken zur Kenntnis. »Mir ist es wichtig, dass ich die Zuschauer erreiche und eine Botschaft transportiere. Die Meinung von Berufskritikern bedeutet mir wenig, weder Lob noch Tadel«, sagt sie. Deswegen tritt sie in Frankfurt auch nicht in einem Schauspielhaus auf, sondern in der Union-Halle, einem kühl wirkenden Keller-Saal in einem Hinterhof der Hanauer Landstraße. »Sie will nicht das übliche Theaterpublikum ansprechen«, betont auch ihr Manager, Robert Hofferer. Denn das interessiere sich meist mehr für die Art als für das Thema einer Inszenierung. Zielgruppe sei ein junges Publikum, das nicht oder nur selten ins Theater gehe. Der Auftritt in der Main-Metropole ist für die Schauspielerin eine Art »Heimspiel«. Zwar wohnt sie die meiste Zeit des Jahres in Berlin und Wien. Doch zu Hause fühlt sie sich in Frankfurt, dort, wo ihre Familie lebt.
Bereits als Teenager hat sich Asli Bayram mit dem Leben von Anne Frank auseinandergesetzt. Schon damals war sie beeindruckt vom Talent der jungen Frau, die mit ihrer Familie in einem Versteck in Amsterdam auf engstem Raum ausharrte. »Am meisten fasziniert mich der unbändige Lebenswille«, sagt die Schauspielerin. »Anne hat an ihre Ideale geglaubt, bis zum Ende.« Um sich auf die Rolle vorzubereiten, besuchte Bayram das Anne-Frank-Haus in der Amsterdamer Prinsengracht, beschäftigte sich mit der Zeitgeschichte und las das Tagebuch des jungen Mädchens immer wieder. Auch jetzt, drei Monate nach der Premiere ihres Stückes, stöbert sie regelmäßig darin. Sie liest vor allem jene Passagen, die für die Bühnenfassung rausgekürzt wurden.
»Anne Frank hatte so viel Talent und Kraft. Nie gab sie sich einfach zufrieden. Ungleichbehandlung war etwas, das Anne überhaupt nicht leiden konnte.« Nicht nur in diesem Punkt gibt es Parallelen zwischen der Protagonistin und der historischen Figur. Auch das äußere Erscheinungsbild ist verblüffend ähnlich. Und das, obwohl Asli Bayram aus einer türkischen Familie stammt. Geboren und aufgewachsen ist sie allerdings in Deutschland, zunächst in Darmstadt, später in Frankfurt. Nach dem Abitur begann sie, Jura zu studieren und trat damit in die Fußspuren ihrer drei älteren Schwestern und ihres Bruders.
Ihre Karriere vor Publikum und Kamera begann 2005, als sie zur »Miss Germany« gekürt wurde. Bayram war die erste türkischstämmige Bewerberin, die diesen Titel gewonnen hat. Und genau das bezweckte sie mit der Teilnahme an diesem Wettbewerb. Nach ihrem Sieg nahm die Studentin Schauspielunterricht in Istanbul und in Wien. Schon bald war sie in österreichischen und türkischen Spielfilmen zu sehen. Es folgte die Produktion Short Cut to Hollywood, für die sie im Februar 2007 in den USA vor der Kamera stand. Der Film handelt von Menschen, die alles tun, um berühmt zu werden. Würde sie auch alles dafür tun? »Nein, auf keinen Fall«, antwortet sie entschieden. »Ich bin nur dann gerne berühmt, wenn diese Berühmtheit mir ermöglicht, Menschen dadurch ein Stück weit zum Positiven zu verändern.«
Das klingt fast ein bisschen zu erwachsen für eine 26-Jährige. Doch die Art, wie sie ihre Sicht auf die Welt beschreibt, lässt sie authentisch und glaubhaft wirken. Asli Bayram scheint kein Mensch zu sein, der leere Floskeln verbreitet. Immer wieder legt sie die Stirn nachdenklich in Falten und blickt suchend in die Ferne. Was sie dann sagt, ist genau überlegt und mit Nachdruck formuliert. Wenn sie sich freut, lachen ihre tiefdunklen Augen und strahlen Wärme aus. Zu ihren Leidenschaften gehört das Reisen. Gerne entdeckt sie andere Kulturen und lernt neue Länder und Menschen kennen. Dann denkt sie häufig über die Gesellschaft nach, über das Miteinander der Menschen. Ihrer Ansicht nach kann jeder sei- nen Beitrag zum Allgemeinwohl leisten. Bayram ist froh, dass es ihr in diesem Fall durch ihre Arbeit möglich ist.
Was Asli Bayram auch anfasst, immer ist sie dabei auf der Suche nach einer Botschaft, die sie transportieren kann. Bei Anne Frank ist das der Kampf gegen Rassismus und Fremdenhass. »Das Thema ist lei- der nach wie vor aktuell«, sagt die Schauspielerin. Deswegen sei es wichtig, gerade mit jungen Menschen darüber zu sprechen, und die Vergangenheit nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. »Ich bin eine glückliche Natur. Ich liebe die Menschen, bin nicht misstrauisch und will alle mit mir zusammen glücklich sehen.« Dieses Zitat aus dem Tagebuch mag Asli Bayram am liebsten. Gleichzeitig macht es sie sehr traurig. »Dieses wunderbare Mädchen durfte nicht leben – nur wegen Menschenhass, Rassismus und Intoleranz.«
Für Asli Bayram haben solche Worte besondere Bedeutung. Nicht nur, dass sie in Deutschland immer wieder mit fremdenfeindlichen Äußerungen wegen ihres Aussehens konfrontiert war. Als Jugendliche musste sie miterleben, wie ihr Vater, ein erfolgreicher Unternehmer und Geschäftsmann aus Ankara, beim Angriff eines rechtsradikalen Hausnachbarn der Familie in Darmstadt ums Leben kam. Sie selbst wurde durch einen Schuss schwer verletzt. »Ich weiß nicht, ob ich heute anders sein würde, wenn das nicht passiert wäre. Ich bin sehr weltoffen aufgewachsen, in meiner Familie war Toleranz stets eine wichtige Tugend. Meine Sicht auf die Welt wäre wohl heute nicht anders.«
Mehr will Asli Bayram über das tragische Geschehen nicht sagen. Viel lieber möchte sie mit ihrer Arbeit einen eigenen Beitrag leisten, solche Taten und das ihnen zugrunde liegende Denken künftig zu verhindern. Unterhaltung sei dazu da, die Menschen zu bilden, so versteht sie Schauspielerei. Für sie ist es deshalb besonders wichtig, dass sie an die Dinge glaubt, die sie tut, dass sie einen Sinn und Qualität haben. »Es geht um Menschlichkeit, unabhängig von Herkunft, Religion und Kultur. Alle Menschen wollen friedlich leben, und da ist Toleranz gefragt«, sagt Bayram. Sie selbst bezeichnet sich als einen durchaus religiösen Menschen. »Ich glaube an Gott. Aber es ist bei mir eine Sache des Herzens, eine rein private Angelegenheit.« Jeder Mensch solle seinen Glauben leben, solange er es friedlich tue.
Mit dieser Botschaft will Asli Bayram auch die Welt des Schauspiels erobern. Sowohl auf der Bühne als auch vor der Kamera kann sie sich die Zukunft gut vorstellen. Noch steht sie am Anfang ihrer Karriere. »Ich muss und werde noch viel lernen. Jede Rolle ist ein Lernprozess. Mir geht es darum, mich weiterzuentwickeln – als Schauspielerin und als Mensch.« Modeln steht vorerst nicht auf dem Programm der 26-Jährigen. Und das, obwohl sich die ehemalige Miss Germany vor Aufträgen vermutlich nicht retten könnte. Schlanke 51 Kilo- gramm, 1,70 Meter groß, Konfektionsgröße 36, dazu ein zierliches, ausdrucksstarkes Gesicht, große dunkle Augen und lange schwarze Haare. Diese Angaben stehen auf ihrer Internetseite.
Dann gibt es ja neben der Schauspielerei noch das angefangene Jura-Studium, das Asli Bayram auf jeden Fall abschließen will. Sie ist überzeugt: Der richtige Zeitpunkt dafür wird kommen. Aber zunächst einmal geht die junge Frau weiter mit dem Tagebuch der Anne Frank auf Reisen. Auftritte sind in Hamburg, Luxemburg und Berlin geplant. Vielleicht ist sogar ein Gastspiel in den Niederlanden drin. Jüngst gab es eine Anfrage aus Israel. Darüber hat sich Asli Bayram besonders gefreut.
www.asli-bayram.com