von Reuven Konnik
Wie schwer ist es, der Verlockung zu widerstehen, über die Inhalte des Wochenabschnitts Mischpatim zu schreiben, ohne die berüchtigte Stelle in 2. Buch Moses 21, 24 »Auge um Auge, Zahn um Zahn, Hand um Hand, Fuß um Fuß« zu erwähnen. Hier haben unzählige weniger gut Gesinnte ihre Vorwürfe vorgebracht, die Bibel wäre brutal und grausam. Dabei muss man gar nicht einmal in Kommentaren nachschlagen – schon aus dem eigentlichen Zusammenhang wird es deutlich, dass es sich bei »Auge um Auge« um Entschädigungen, also den Wert eines Auges, handelt (21, 26). Denn im 21. Kapitel werden zahlreiche andere Verstöße genauso behandelt, bei deren Wiedergutmachungen es sich nur um Schadensersatzleistungen handeln kann.
In diesem Wochenabschnitt finden wir eine ganze Reihe einzelner spannender Textstellen. Doch erscheint der Abschnitt auch in seiner Gesamtheit sensationell und bemerkenswert. Hier lesen wir einen Text – wissenschaftlich nachgewiesen stammt er aus der urbarbarischen Zeit –, der uns eine merkwürdig erhabene Sozialgesetzgebung offenbart. Privatrecht, Eigentumsrecht, Strafrecht, Zivilrecht, Naturschutz – alles ist klar geregelt. Nicht umsonst heißt der Wochenabschnitt »Mischpatim«, was »Rechtsvorschriften« bedeutet. Hier finden sich 53 der 613 Gebote. Dazu wird nicht selten an die Sittlichkeit oder ans Verantwortungsgefühl appelliert und anständiges Verhalten gepredigt. Nach den Zehn Geboten im vorhergehenden Wochenabschnitt folgen hier vielfältige Fallbeispiele und Erklärungen, Maßnahmen werden verordnet.
Hier sollen uns nicht die Gesetze bezüglich Sklaven verunsichern. Eine ausführliche Betrachtung dieser Regelungen zeigt deutlich, dass es sich eher um eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme und die Wiedereingliederung in die Gesellschaft als um Ausbeutung und Unterdrückung handelte. In vielen Fällen ist der Herr eines Sklaven sogar verpflichtet, diesen besonders rücksichtsvoll und bevorzugt zu behandeln.
Auch wenn unser Gerechtigkeitssinn vielen dieser Anordnungen sofort vollkommen zustimmt, lohnt es sich doch, zu besserem Verständnis und weiterer Verinnerlichung, zusätzliche Kommentare hinzuzuziehen. Vor allem aber dann, wenn die Formulierung nicht eindeutig ist.
In 2. Buch Moses 23,1 finden wir die Anweisung, »kein falsches Gerücht anzunehmen«. Der mittelalterliche Kommentator Raschi (1040-1105) sagt dazu, wir sollen nicht hinhören, wenn uns schlechte Sachen über andere erzählt werden. Es wäre also grundsätzlich richtig, gar keinen Gedanken daran zu verschwenden, sondern das Gehörte von uns zu weisen. Ibn Esra (1092–1167) fügt an dieser Stelle hinzu, dass man das, was man über andere gehört hat, nicht weiterverbreiten soll.
Es scheint in der Natur des Menschen zu liegen, über andere etwas wissen zu wollen und darüber nachzudenken, was sie tun. Manchmal meinen wir sogar, die Gedanken und Gefühle der Menschen erkennen zu können. Und so ist es oft überaus schwer herauszufinden, ob jemand über eine andere Person etwas aus rein menschlichem Interesse – »einfach so« – erzählt oder mit einer uns verborgenen bösen Absicht.
Was geschieht genau, wenn wir ein Gerücht aufschnappen und weitererzählen? Die damit verbundenen Konsequenzen können wir uns schwer bewusst machen. Eigentlich vergibt uns G’tt bereits, wenn wir eine Tat aufrichtig bereuen und uns vornehmen, sie nicht zu wiederholen.
Haben wir nicht nur gegen Sein Gesetz verstoßen, sondern uns auch gegen einen Menschen vergangen, müssen wir den entstandenen Schaden wiedergutmachen. Schulden wir jemandem etwas Materielles, sind wir verpflichtet, es ihm zurückzugeben. Haben wir einen Menschen gekränkt, müssen wir uns entschuldigen.
Wie aber repariert man den Schaden, den ein in Umlauf gebrachtes Gerücht angerichtet hat? Ein Gerücht kann weit getragen werden und schlimme Folgen haben. So kann man verpflichtet sein, einen Schaden wiedergutzumachen, dessen Ausmaß weder der Schuldige noch der Geschädigte selbst wirklich kennt. Das Gesagte kann nicht zurückgenommen werden. Selbst wenn man tatsächlich jeden Einzelnen, dem das Gerücht zu Ohren gekommen ist, von der Unwahrheit überzeugen könnte, blieben da immer noch ein übler Nachgeschmack, schlechte Assoziationen und möglicherweise viele voreingenommene Entscheidungen. Wir müssen uns selbst jeden Tag aufs Neue kontrollieren, Informationen richtig zu filtern und das Notwendige wahrheitsgetreu wiederzugeben.
Der Autor ist Rabbinatsstudent an der Jeschiwa »Beis Zion« in Berlin.