von Richard Chaim Schneider
Die Frage mag angesichts der aktuellen politischen Lage merkwürdig klingen. Doch wer sich ernsthaft mit einer Lösung des palästinensisch-israelischen Konflikts beschäftigt, wird nicht umhinkommen, sie zumindest im Ansatz beantworten zu wollen: Was tun mit den heiligen jüdischen Stätten, von denen die meisten in den besetzten Gebieten liegen, zu denen nach internationalem Recht auch Ostjerusalem gehört?
Gewiss, so wie sich die politische Großwetterlage darstellt, ist an eine Rückgabe der besetzten Gebiete nicht zu denken. Zwar ist jedem klar, wie der Frieden im Prinzip aussehen muss: Israel würde nur die großen Siedlungsblöcke wie Gusch Etzion und Maale Adumim behalten und im Austausch den Palästinensern Teile des jetzigen Kernlandes übertragen. Doch was mit den jüdischen Heiligtümern geschehen soll, ist unklar. Nennen wir nur die wichtigsten: die Klagemauer am Tempelberg in Jerusalem, die Höhle Machpela in Hebron, das Grab der Rachel bei Bethlehem und das Grab des Propheten Samuel in der Nähe von Jerusalem.
Israel wird sich schwertun, diese Heiligtümer aufzugeben. Es wird vor allem der religiösen und rechtsnationalen Bevölkerung kaum zu vermitteln sein, dass man den Hoheitsanspruch auf die Stätten, die die Wiege der Nation darstellen, den Palästinensern anvertraut. Dabei ist die Problematik um den Tempelberg noch am leichtesten zu lösen: eine Internationalisierung der Altstadt Jerusalems, die zugleich die religiöse Verwaltung der Heiligen Stätten den jeweiligen Religionen überlässt. Muslime und Juden beschuldigen sich derzeit gegenseitig, durch Ausgrabungen die Heiligtümer des jeweils anderen zu zerstören. Dieses Problem könnte durch entsprechende Kontrollen gelöst werden. Aber was ist mit dem Rest? Sollte es tatsächlich Frieden geben, müsste Israel einen »Korridor« bereitstellen, der es den Palästinensern ermöglicht, zwischen dem Westjordanland und Gasa hin- und herzufahren. Ähnliche Zugangswege zu den jüdischen Heiligtümern müssten umgekehrt die Palästinenser zur Verfügung stellen.
Aber ist das realistisch? Wenn man von einem echten Frieden ausgeht, sicherlich. Doch das Misstrauen auf beiden Seiten ist derzeit übermächtig. Es müssten Maßnahmen ergriffen werden, die zumindest in der Anfangsphase eine Garantie für beide Seiten bedeuten.
Allerdings stellt sich noch eine ganz andere Frage: Durch die Eroberung der Gebiete im Sechstagekrieg 1967 hat sich in Teilen des religiösen Judentums eine geradezu »heidnisch-kultische« Verehrung von Steinen und Örtlichkeiten entwickelt. So beschrieb das der jüdische Religionsphilosoph Jeshajahu Leibowitz, der die Vereh- rung der Klagemauer als »Diskotel« abtat, ein Wortspiel aus »Disko« und »Kotel«, dem hebräischen Wort für Mauer. Was er damit meinte, war die geradezu götzendienerische Verehrung von Steinen. Man darf nicht vergessen, dass die »Westmauer«, die heute Klagemauer ist, nur die äußere Begrenzung des Tempels war. Somit kam ihr ursprünglich keinerlei »Heiligkeit« zu. Die ist erst in unserer Zeit entstanden.
Ähnliches gilt für andere Orte, die vor wenigen Jahrzehnten noch gar keine religiösen Stätten waren, etwa das sogenannte Josefsgrab in Nablus (hebräisch: Schchem). Dass die Grabstätte authentisch ist, bezweifeln Historiker und Archäologen. Dennoch hat sich dort ein religiöser Heiligentourismus entwickelt, der die israelische Armee vor massive Probleme stellt. Denn Nablus ist Autonomiegebiet, Juden dürfen aus Sicherheitsgründen nicht hinein. Doch immer wieder gelingt es frommen Fanatikern, die Absperrungen der Armee zu überwinden. Sie nehmen damit nicht nur für sich ein hohes Risiko in Kauf, sondern auch für die Armee und die Sicherheitskräfte der Autonomiebehörde. Zum Glück sind beide Seiten besonnen und kooperieren in solchen Fällen.
Bevor also die Frage gestellt wird, wie mit den heiligen jüdischen Stätten umgegangen wird, muss darüber nachgedacht werden, ob nicht die aktuelle Verdinglichung des Glaubens durch eine neukultische Fixierung auf Orte, Steine und Gräber im besten Sinne »unjüdisch« ist. Diese Frage lässt sich fast noch schwieriger beantworten als die erste. Sie erfordert eine grundsätzliche Neubesinnung der Gläubigen. Und davon ist noch weniger auszugehen als vom Frieden im Nahen Osten.
Der Autor ist Chefkorrespondent und Leiter des ARD-Studios in Tel Aviv.