An manchen Tagen sind es Zigtausende: Männer in seidenen Kaftanen und Fellhüten, tief im Gebet versunken, japanische Reisende mit digitalen Fotoapparaten um den Hals, gläubige Jüdinnen in wadenlangen Röcken, die ergriffen vor den Steinen der Jerusalemer Klagemauer stehen. Dazwischen zeigen Touristinnen von überall her ihre nackten Arme ganz selbstverständlich der Sonne. Es ist ein buntes Gemisch, wie es zu einem Ort gehört, der gleichzeitig höchstes Heiligtum des Judentums und Top-Sehenswürdigkeit für Reisende aus der ganzen Welt ist. Jedoch werden die Regeln des ultraorthodoxen Auf-
sichtspersonals immer strikter und erinnern zunehmend an fundamentalistische Staaten und nicht an ein weltoffenes Land.
Jüdisch oder nicht, viele Besucher freuen sich schon lange vorher auf den Tag, an dem sie endlich die noch vorhandenen Mauerreste des Zweiten Tempels mit eigenen Augen sehen und sogar berühren dürfen. Ein Foto für die Lieben daheim, zeugt davon, wie man den Wunschzettel in die Ritzen der mächtigen Steine gesteckt hat. Viel zu oft endet der Tag, der ein besonderes Erlebnis sein soll, jedoch mit einer herben Enttäuschung. Schon auf der großen Plaza vor der Mauer herrschen strikte Regeln: Rauchen am Schabbat verboten, Fotografieren nicht erlaubt. Wer es dennoch tut, wird rüde darauf hingewiesen, nicht selten abgedrängt oder wüst beschimpft. Doch welcher nichtjüdische Tourist kennt sich schon mit Schabbatregeln aus, die in den wenigsten Reiseführern explizit erklärt sind. Und wer würde meinen, dass sie auch für Nichtjuden gültig sind – noch dazu unter freiem Himmel?
Doch die Regeln gelten. Und je näher der Besucher der Klagemauer kommt, desto strikter werden sie ausgelegt. Die Mauer selbst ist in einen Männer- und einen Frauenbereich aufgeteilt. Am Eingang zu letzterem stehen grimmig dreinblickende Damen, die alle Besucherinnen von oben bis unten genau inspizieren. Schaut ein Stückchen Haut hervor, etwa aus einem ärmellosen T-Shirt, wird der Frau wortlos ein meist übel riechendes Stück Stoff gereicht, dass sie sich über die Schultern hängen muss. Oft werden noch Tücher für die Beine, manchmal für den Kopf gereicht.
schikanen Reiseleiter der Stadt haben sich jetzt über das schikanierende Verhalten des Aufsichtspersonals beschwert. Auf einem Treffen der Bewegung »Die Jerusalemer«, die sich gegen die zunehmenden ultraorthodoxen Verhaltensvorschriften in der Stadt wehrt, erzählten sie, dass Belästigungen und Beleidigungen gegenüber Touristen mittlerweile an der Tagesordnung seien und fast jeder Besuch, ganz besonders von Jugendgruppen, bei diesen einen negativen Eindruck hinterlasse. Männer würden manchmal gefragt, ob sie beschnitten, Frauen, ob sie tatsächlich jüdisch seien.
»Das geht so nicht weiter«, lautete die einhellige Meinung. Das findet auch Rachel Azaria, Mitglied des Stadtrates und Gründerin der »Jerusalemer«. Sie ist der Überzeugung, dass Klagemauer-Rabbiner Schmuel Rabinowitz für die wachsenden fundamentalistischen Richtlinien verantwortlich ist. »Frauen müssen sich verhüllen und Männer werden von Chabad-Aktivisten belagert – das ist die Realität.« Mittlerweile erwägt sogar die Jewish Agency von ihrer Tradition Abstand zu nehmen, Neueinwanderern ihre Pässe auf der Plaza vor der Kotel, wie die Klagemauer im Hebräischen genannt wird, auszuhändigen. Denn auch die Olim sollen zukünftig nach Geschlechtern getrennt aufgestellt werden.
Für manche endet der Besuch der heiligen Steine gar mit Freiheitsentzug. In der vergangenen Woche nahm die israelische Polizei eine Frau in Gewahrsam, weil sie sich an der Klagemauer einen Gebetsschal (Tallit) umgelegt hatte, eine Tradition, die nach orthodoxer Auffassung ausschließlich Männern vorbehalten ist. Für liberale Juden jedoch gehört es oft dazu, dass Frauen auch den Tallit tragen. Nofrat Frenkel ist Mitglied einer Gruppe feministischer Jüdinnen, die sich »Frauen der Mauer« nennen und bereits seit über zwei Jahrzehnten an die Klagemauer kommen, um das Rosch-Chodesch-Gebet zu rezitieren. Als die Frauen begannen, aus der Tora zu lesen, rief das Aufsichtspersonal die Polizei. Rabbiner Rabinowitz bezeichnete hinterher die Aktion der »Frauen an der Mauer« als eine Provokation, die die Kotel in eine Kampfarena verwandeln solle. »Wir müssen Politik und Meinungsverschiedenheiten von diesem heiligen Platz fernhalten«, sagte er.
Frenkel wurde für zweieinhalb Stunden festgehalten und musste unterschreiben, dass sie sich in den nächsten 15 Tagen der Klagemauer nicht nähern wird. Die »Frauen der Mauer« zeigten sich geschockt und betonten, es sei das erste Mal in 21 Jahren, dass jemand festgenommen wird, weil er sich in einen Gebetsschal hüllt und aus der Tora liest. Viele liberale Rabbiner äußerten sich zudem empört über das Eingreifen der Polizei und bemerkten, es sei schockierend, dass das Beten im Tallit in aller Welt erlaubt ist, man im jüdischen Staat dafür aber verhaftet wird. Die Polizei verteidigte ihr Eingreifen mit der Entscheidung des Obersten Gerichtshofes, dass ein Besuch an der Klagemauer in angemessener Kleidung stattzufinden habe.
nicht erlaubt Man muss aber nicht erst religiöse Utensilien aus der Tasche holen, um unangenehm aufzufallen. Das hat Kerstin Steinmann am eigenen Leib erfahren: Vor wenigen Wochen hatte die Israelin Besucher aus Australien zu Gast und reiste mit ihnen nach Jerusalem. Höhepunkt sollte der Gang zur Klagemauer werden. »Stattdessen wurde es ein Alptraum«, erinnert sie sich. Die ausgiebigen Kontrollen der Soldaten am Eingang zur Plaza konnte sie noch erklären, »Sicherheit«. Doch was dann geschah, dafür fehlt ihr jegliches Verständnis. Steinmann und ihre Freundin wollten in die Frauensektion der Mauer. »Wir hatten lange, weite Hosen und T-Shirts mit halbem Arm an, also völlig in Ordnung für viele andere Synagogen oder jede Kirche im Vatikan. Dennoch sollten wir uns über Arme und Beine diese Lappen hängen. Das allein war schon sehr unangenehm.« Schließlich wurde die Freundin gefragt, ob sie jü- disch sei, was diese ignorierte. »Und dann wurden wir wortlos hinausgedrängt. Es war unglaublich, wir wollten jemanden um Hilfe bitten, doch da war niemand. Wir konnten nicht rein, weil diese zwei Frauen es nicht erlaubten.« Steinmann ist noch immer entsetzt. »Die gesamte Atmosphäre auf diesem besonderen Platz wird zerstört. Das wirft besonders im Ausland ein sehr trauriges Bild auf Israel und seine wundervollen Stätten.«