Explosionen haben mich heute Morgen um fünf geweckt. Russische Soldaten beschossen erneut Wohngebiete in Kiew. Eine Rakete traf ein neunstöckiges Wohnhaus, das genauso aussieht wie mein eigenes. Noch näher an meinem Haus in einem Wohngebiet explodierte eine Artilleriegranate. In den Außenbezirken der Stadt finden erbitterte Kämpfe statt. Das Dröhnen der Artilleriekanonade ist fast die ganze Zeit zu hören. Sie rücken immer näher. Ich frage mich, ob es die richtige Entscheidung war, in Kiew zu bleiben.
Ich bin Historiker. Was heute passiert, hilft mir besser als ein Universitätsstudium, die Logik der Ereignisse von 1938/39 in Europa zu verstehen. (…)
Holocaust Eine der wichtigsten Figuren der damaligen Kriegszeit ist für mich Jan Karski. Als polnischer Offizier, ein Mann mit herausragenden Fähigkeiten und außergewöhnlichem Mut, arbeitete er während der Nazi-Besatzung im Untergrund. Nachdem er einzigartige Informationen über die Gräueltaten der Nazis gesammelt hatte, schaffte er es 1942, in den Westen zu gelangen. Er war einer der Ersten, die der Welt vom Holocaust erzählten. Er versuchte, alles in seiner Macht Stehende zu tun, damit demokratische Nationen etwas gegen diesen Horror tun. (…)
Karski erinnerte sich später so: »Gott hat mich auserwählt, den Westen über die Tragödie in Polen zu informieren. Dann schien es mir, dass diese Informationen helfen würden, Millionen von Menschen zu retten. Es hat nicht funktioniert, ich habe mich geirrt.«
Heute höre ich in Kiew das heranrückende Artilleriefeuer und zucke vor Raketenangriffen in der Ferne zusammen. Ich tue mein Bestes, um Informationen über Kriegsverbrechen zu sammeln, die vor meinen Augen geschehen. Es wird immer schwieriger, die Zahl der zivilen Opfer des Konflikts auch nur annähernd zu zählen, es ist fast unmöglich. Zum Beispiel ist Mariupol durch die Belagerung abgeschnitten, auch von allen Kommunikationskanälen. Jeden Tag kommen Hunderte, vielleicht Tausende Menschen ums Leben.
PUTIN STOPPEN Was muss noch passieren, damit die internationale Gemeinschaft erkennt, dass sie nicht am Rand stehen und zuschauen kann? Wladimir Putin wird nur aufhören, wenn er gestoppt wird, das scheint offensichtlich. Aber wie viele Tausende, Zehntausende Ukrainer müssen noch sterben?
Wir Ukrainer werden diesen Krieg tatsächlich gewinnen. Wir haben keine andere Wahl. Es ist ein Krieg nicht nur um unsere Unabhängigkeit als Land, sondern auch um unsere Existenz als Volk. Aber je früher die internationale Gemeinschaft aufwacht und eingreift, desto eher wird dieser Albtraum enden und desto weniger Menschen werden sterben.
Ich möchte, dass Karskis Worte in meinem Kopf wie eine Vertrauenserklärung klingen, dass die Schuldigen für ihre Verbrechen bestraft werden, und nicht als bitterer Beweis für die Vergeblichkeit der Bemühungen, die Welt über die Tragödie zu informieren.
Dies ist ein Auszug des Textes. Den kompletten Artikel lesen Sie in der am 17. März erscheinenden Printausgabe der Jüdischen Allgemeinen.