Sechstagekrieg

Stand der Sechstagekrieg im Einklang mit dem Völkerrecht?

Musterbeispiel
von Ed Morgan

Nach Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen genießen Staaten ein »naturgegebenes« Selbstverteidigungsrecht im Falle eines »bewaffneten Angriffs«. Seit dem Sechtagekrieg steht die Frage im Raum, ob das Selbstverteidigungsrecht auch präventiv gilt oder, wie es der Rechtsphilosoph Hugo Grotius im 17. Jahrhundert ausdrückte, wenn »sich die Tat vorhersehen lässt«. Die Antwort muss sich an dem bei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen geprägten Grundsatz messen lassen, dass »präventive Handlungen auf fremdem Territorium nur dann gerechtfertigt sind, wenn eine unmittelbare und überwältigende Notwendigkeit der Selbstverteidigung besteht«. Folgten die militärischen Handlungen Israels im Juni 1967 diesem Grundsatz?
1956 hatte Israel am Sinai-Feldzug teilgenommen, um Angriffe aus Gasa und Sinai zu beenden und den freien Schiffsverkehr durch die Straße von Tiran zu sichern. Der Rückzug der israelischen Truppen aus dem Sinai im Jahre 1957 ging einher mit der Errichtung einer UN-Friedenstruppe (UNEF) und einem aide mémoire der Vereinigten Staaten, das Israel das Durchfahrtsrecht durch die Straße von Tiran zusicherte.
Im Frühjahr 1967 flammte der Konflikt wieder auf. Am 14. Mai verschob der ägyptische Präsident Nasser Truppen auf den Sinai und forderte den Rückzug der UN-Truppen. Am 18. Mai willigte der UN-Generalsekretär in den Rückzug ein, weil UN-Truppen auf dem Gebiet eines Mitglieds- staates aus formalen Gründen nur mit dessen Einverständnis stationiert werden dürfen. Am 22. Mai blockierte Ägypten die Straße von Tiran für den israelischen Schiffsverkehr. Eine Woche später, am 30. Mai, begann auch der jordanische König Hussein, kriegerische Reden zu schwingen: »Die Armeen Ägyptens, Jordaniens, Syriens und des Libanon stehen an Israels Grenzen bereit. Hinter uns stehen die Armeen des Irak, Algeriens, Kuwaits, des Sudan und der ganzen arabischen Welt.« Am nächsten Tag kündigte der irakische Präsident Rahman Aref an: »Unser Ziel ist klar – Israel von der Landkarte zu wischen«.
Im Kontext dieser Kriegsrhetorik und der Truppenbewegungen bedeutete die Schließung der Straße von Tiran einen casus belli. Die Blockade verletzte die Garantien, die Israel gegeben wurden, und das Übereinkommen über das Küstenmeer und die Anschlusszone, das auf der UN-Seerechtskonferenz 1958 beschlossen worden war.
Am Morgen des 5. Juni begann Israel Luftschläge gegen die ägyptische Luftwaffe und schickte Bodentruppen nach Gasa und Sinai. Die jordanische Artillerie eröffnete das Feuer auf Westjerusalem und die Vororte von Tel Aviv, und jordanische Truppen besetzten das UN-Hauptquartier in Jerusalem. Nach wiederholten Warnungen an die Adresse Jordaniens rückten israelische Soldaten schließlich auf das Westjordanland und Ostjerusalem vor, um am 8. Juni das gesamte Westjordanland zu okkupieren.
Syrische Artillerie beschoss seit dem 5. Juni von den Golanhöhen aus drei Tage lang zivile Ziele in Nordisrael. Aus Furcht vor einer sowjetischen Intervention sagte Israel am 8. Juni einen geplanten Schlag gegen Syrien ab, doch am Tag darauf autorisierte Verteidigungsminister Moshe Dayan einen begrenzten Angriff. Israel stellte am 10. Juni das Feuer ein, nachdem es Kuneitra und die Golanhöhen besetzt hatte.
Die israelischen Kriegshandlungen gegen Jordanien und Syrien gelten unter praktisch jeder Interpretation des Völkerrechts als Selbstverteidigung. Und der Schlag gegen Ägypten ist ein Musterbeispiel für einen Präventivschlag gemäß dem Selbstverteidigungsrecht der UN-Charta.
Verteidigungsexzess
von Gerd Seidel

Die UN-Charta lässt die rechtmäßige Anwendung militärischer Gewalt prinzipiell nur in zwei Fällen zu, erstens aufgrund eines Beschlusses des UN-Sicherheitsrats und zweitens im Falle des Selbstverteidigungsrechts, worauf sich ein Staat aber nach Artikel 51 der UN-Charta nur dann berufen darf, wenn ihn vorher ein anderer Staat tatsächlich militärisch angegriffen hat.
Israel ist vor dem 5. Juni 1967 von keinem anderen Staat angegriffen worden. Fraglich ist nun, ob eine Berufung auf die von manchen befürwortete sogenannte Webster-Formel von 1837 möglich ist, wonach die Selbstverteidigung in außergewöhnlich eng begrenzten Fällen auch schon vor einem unmittelbar bevorstehenden bewaffneten Angriff erlaubt sein soll, nämlich dann, wenn die Umstände so zeitlich drängend und überwältigend sind, dass sie dem betreffenden Staat keine andere Wahl als ein militärisches Vorgehen zur Abwendung der Gefahr für die eigene staatliche Existenz lassen. Zwar führten das Verbot der Durchfahrt durch den Golf von Akaba und die Forderung Ägyptens nach Abzug der UN-Truppen von der Sinai-Halbinsel, verbunden mit einer provokatorischen Rhetorik der arabischen Staaten gegenüber Israel, zu einer Zuspitzung der Situation im Mai/Juni 1967 in der Region, doch muss wegen der sehr restriktiv auszulegenden Ausnahmeregelung bezweifelt werden, ob dies schon die Annahme eines unmittelbar bevorstehenden Angriffs im Sinne dieser Formel rechtferti- gen konnte.
Keineswegs kann aus der fehlenden Verurteilung des israelischen Militärschlages vom 5. Juni 1967 durch den UN-Sicherheitsrat eine Befürwortung dieser Militäraktion abgeleitet werden, weil der Si- cherheitsrat mangels Einigung bisher auch in anderen Situationen nicht in der Lage war zu reagieren.
Aber selbst wenn man die Rechtmäßigkeit des Vorgehens Israels im Junikrieg unterstellen würde, so kommt man jedenfalls aufgrund der seit vier Jahrzehnten anhaltenden Okkupation des Westjordanlandes und der Golanhöhen sowie der später erfolgten und von UN-Generalversammlung und -Sicherheitsrat in scharfer Form für »null und nichtig« erklärten Annexion Jerusalems zum Ergebnis eines Selbstverteidigungsexzesses, der einer Aggression gleichkommt. Die Aggressionsdefinition der Vereinten Nationen behandelt Okkupation und Annexion als Fälle der permanenten Aggression, die unverzüglich zu beenden sind. Die Selbstverteidigung ist nur dann rechtmäßig, wenn sie verhältnismäßig durchgeführt wird und die Militäraktionen sachlich und zeitlich strikt auf das Ziel des Zurückdrängens des Angreifers ausgerichtet sind. Die jahrzehntelange Okkupation und Annexion der Gebiete war zur Zurückdrängung der tatsächlichen beziehungsweise vermeintlichen Gefahren von Anfang Juni 1967 keineswegs erforderlich. Somit ist das Verhältnismäßigkeitsprinzip jedenfalls verletzt.
Die Besetzung des Westjordanlandes und des Gasastreifens (bis 2005) kann auch nicht damit gerechtfertigt werden, dass es dort der Staatlichkeit ermangelt. Vielmehr waren diese Gebiete von der UN-Resolution 181 (II), die auch die Rechtsgrundlage für die Gründung Israels war, für einen palästinensischen Staat vorbehalten. Die Besetzung des Westjordanlandes ist – neben anderen damit verbundenen Rechtsverletzungen – eine Verletzung des Selbstbestimmungsrechts des palästinensischen Volkes. Sie muss beendet werden, um den Weg zur Gründung eines palästinensischen Staates freizumachen. Zahlreiche UN-Resolutionen fordern dies ebenso wie die Einhaltung der für die Besatzungsmacht geltenden Regeln des humanitären Völkerrechts und der Menschenrechte.
Da Israelis und Palästinenser – ob sie es wollen oder nicht – eine Schicksalsgemeinschaft bilden, gibt es keine Alternative zu direkten Verhandlungen zwischen ihnen. Dazu ist es aber erforderlich, dass beide Seiten der Gewalt abschwören und auf Terroraktionen auf der einen Seite und auf militärische Überreaktionen aus einer Position der Stärke auf der anderen Seite verzichten. Mehr Kompromissbereitschaft ist von beiden Seiten zu verlangen, um dem ersehnten Frieden im Nahen Osten näherzukommen.

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