von Marina Maisel
Auf einem interaktiven Sensorbildschirm blättern Schüler virtuell in den angegilbten Seiten alter Poesiealben. Daß ein so alltäglicher Gegenstand wie ein Poesiealbum ein sprechendes historisches Zeugnis sein kann, das erfahren sie in der Ausstellung »,… Traurigsein kommt sowieso‹. Ein jüdisches Poesiealbum 1938/39« im Jüdischen Museum München.
Gespannt lauschen die Schulkinder den Ausführungen von Museumsleiterin Doris Seidel, die ihnen die wechselvolle Lebensgeschichte von Inge Goldstein und Hilde Rosenbaum erzählt. Zwei kleine Büchlein, die Poesiealben der beiden, die in den 30er Jahren als junge Mädchen in München lebten, werfen ein ganz eigenes und sehr lebendiges Licht auf die dunklen Erfahrungen, die die Mädchen damals machen mußten. Seite um Seite sind hier poetische Sinnsprüche zu lesen, geschrieben in den kaligraphisch verschnörkelten Zeichen der deutschen Sütterlinschrift. Schulkameraden und Lehrer haben ihre Widmungen in die Büchlein geschrieben. Hübsche, sauber eingeklebte Bildchen ergänzen die Sinnsprüche.
Eigentlich sehen die Poesiealben ganz froh und lustig aus, und doch berichten sie unmißverständlich von der tragischen Geschichte ihrer Besitzerinnen. »Immer lustig, immer froh, Traurigsein kommt sowieso«, schreibt Inge Berger im April 1938 ins Poesiealbum ihre Freundin Inge Goldstein. Sechs Monate später emigrierte die Freundin mit ihren Eltern in die USA. Das Poesiealbum nimmt sie mit und hütet es wie einen Schatz. 1994 schenkte sie es dem Jüdischen Museum in München. Hier wurde es Grundstein und Ausgangspunkt für die Ausstellung, die zusammen mit anderen Exponaten des Museums einen Einblick in die jüdische Volksschule in der Herzog-Rudolf-Straße und in die persönliche Geschichte ihrer Schüler und Lehrer gibt.
Die Schulkinder, die der Einladung zu einem Workshop gefolgt sind, zeigen sich interessiert an der jüdischen Geschichte ihrer Stadt und lernen viel aus dem unmittelbaren Alltag der damaligen Zeit. »Die Jungs haben kurze Lederhosen getragen und die Mädchen immer einen Rock oder ein Kleid«, wundert sich der neunjährige Johannes. »Haben die Juden früher immer einen Stern auf ihren Kleidern tragen müssen?« fragt ein anderer Schüler.
Die Eindrücke des Gesehenen und Gehörten wirken bei ihnen auch nach dem Ausstellungsbesuch nach: »Ich habe schon von meiner Mutter gehört, wie Juden in Deutschland verfolgt wurden, aber daß jüdische Kinder nicht mal mehr eine öffentliche Schule besuchen durften, das konnte ich mir kaum vorstellen«, bemerkt die zwölfjährige Janina, während sie den Umschlag ihres Albums mit bunten Papierblumen beklebt. Nach der Führung durch die Ausstellung konnten die Kinder im Workshop unter der Leitung der Kunstlehrerin des Jugendzentrums, Svetlana Durkova, selbst Poesiealben basteln. Heute sind sie eher unter der Bezeichnung Freundschaftsbücher bekannt.
Ein anderer Workshop richtet sich speziell an Jugendliche. Die 19jährige Anastasia aus der Ukraine bedauert: »Leider habe ich mein Freundschaftsbuch in der Ukraine gelassen. Ich hatte da die Antworten von meinen Freunden auf verschiedene Fragen gesammelt. Ich hätte es gerne, wenn in dem Album, das ich heute gestaltet habe, viele Wünsche meiner Freunde stehen könnten.«
»Das ist das erste Poesiealbum meines Lebens«, erzählt etwas verlegen der 25jährige Oleksander Buhudlov. »Aber ich finde die Idee, eigene Alben zu entwerfen, sehr gut. Ich denke, daß man sich oft besser schriftlich ausdrücken kann, als mündlich. Das Geschriebene kann mehr aussagen als das, was man einfach nur so dahin sagt.«
Wie sehr Ausstellung und Workshop vor allem die jüngeren Schüler beeindruckt hat, wurde beim anschließenden Besuch der Synagoge deutlich. Der Wunsch, das jüdische Gotteshaus zu besuchen, war von den Schülern selbst gekommen. Hier wurden die Kinder dann recht still. Nur ab und zu stellten sie leise Fragen. In ihren Händen hielten sie ihre selbstgemachten Poesiealben fest, in denen sie zwischen den Zeilen der kleinen Lebensweisheiten immer auch die Zeichen der jüdischen Geschichte eingeschrieben finden.