von Micha Brumlik
Der Amoklauf von Winnenden (vgl. S. 15 und 19) ist ein Stich ins Herz – in mehrfacher Hinsicht. Nicht nur, weil er 15 Leben und damit ein Mehrfaches an Beziehungen und Hoffnungen ausgelöscht hat. Nein, die Bluttat erschüttert unsere Gesellschaft gerade dort, wo sie sich am sichersten wähnt. Immer wieder wurde in den vergangenen Wochen und Monaten das Hohelied von Mittelstand und Mittelschicht gesungen, dass dort der wahre Reichtum dieses Landes erwirtschaftet wird und die meisten Arbeitsplätze geschaffen werden.
Auch geografisch traf der Anschlag mitten ins Herz: Winnenden liegt dort, wo das bundesrepublikanische Wirtschaftswunder vor 60 Jahren begann, wo sprichwörtlicher Fleiß, Bausparverträge und vor allem Rechtschaffenheit ihr Zuhause haben.
Obwohl noch wenig über Tims Eltern bekannt ist, so heben doch Nachbarn und Bekannte einstimmig hervor, dass sie »rechtschaffene« Leute gewesen seien. Andere wollen wissen, dass der Jugendliche »behütet« aufgewachsen ist. »Rechtschaffen« zu sein – das heißt, den Gesetzen nicht zuwiderzuhandeln und sich an dem zu orientieren, was im eigenen Milieu Brauch und Sitte ist: Männer sorgen für ihre Familie, indem sie sich beruflich betätigen und dabei möglichst viel Geld verdienen. Auch dann, wenn es häufige Abwesenheit von zu Hause erfordert; Mütter arbeiten nicht oder nur aushilfsweise und halten Haus oder Wohnung in Ordnung. Sie regeln den Tagesablauf der Kinder und unterstützen sie mehr oder minder bei ihren Anstrengungen in der Schule. Das bedeutet dann »behütet«. Gewiss: Amokläufe dieser Art geschehen so selten, dass es kaum möglich ist, sie durchgängig zu erklären. Statistiker sprechen hier vom »Fehler der kleinen Zahl«. Wenn eine allgemeine Erklärung nicht möglich ist, bleibt nichts anderes übrig, als die Geschichte, diese Geschichte, möglichst vollständig zu erzählen.
All die negativen Faktoren, über die man inzwischen Bescheid weiß – von den Pornobildern über die aggressionsverstärkenden Computerspiele und die viel zu frühe Vertrautheit mit realen Schusswaffen –, können das Verbrechen von Tim nicht erklären. Auf zu viele andere Jugendliche trifft das Gleiche zu, ohne dass sie zu Amokläufern geworden wären. Aber: Wie viele pubertierende Kinder sind es denn wirklich, die von (und mit) ihren Vätern lernen, mit einer Beretta zielgenau zu schießen? Wenn auch nur ein Zehntel aller in Schützenvereinen organisierten Väter sich so verhielte, es wären zu viele.
Bei dieser Geschichte drängen sich Fragen auf, die bisher aus Respekt vor den Eltern des Täters kaum gestellt wurden. Was bedeutet es eigentlich, wenn ein Vater, der sonst fast immer arbeitet, die karge gemeinsame Freizeit ausgerechnet dazu nutzt, mit seinem Sohn schießen zu gehen? Was hielt Tims Mutter von dieser Freizeitbeschäftigung? Worüber haben Vater und Sohn während des Trainings (wenn überhaupt) gesprochen? Und es fällt auf, dass über Tims Mutter und ihr Verhältnis zu den Kindern bisher nichts bekannt ist. Der Boulevardpresse lässt sich entnehmen, dass der kleine Junge, als er noch nicht in den Kindergarten ging, oft bei Oma und Opa war. »Die Eltern waren ja viel bei der Arbeit.« In welchem Alter erhielt Tim seinen Computer? Kontrollierten die Eltern seinen Medienkonsum? Sprachen sie mit ihm wenigstens darüber, was dort über seinen Bildschirm flimmerte? Viele Fragen, wenig Antworten.
Eines aber lässt sich schon jetzt sagen. Jenes Familienmodell, das den enormen wirtschaftlichen Aufschwung der (bundes) deutschen Gesellschaft nach 1945 befördert hat, entspricht nicht mehr den durch Globalisierung und Digitalisierung radikal veränderten Zeitläuften. Vor allem aber hat es nichts mehr gemein mit Kindern und Jugendlichen, die in einer nie da gewesenen »Medienkindheit« aufwachsen.
Vor mehr als 100 Jahren plädierte die schwedische Erziehungsexpertin Ellen Key in ihrem Schlüsselwerk Das Jahrhundert des Kindes geradezu pathetisch dafür, dass Kinder »hervorgeliebt« werden müssten. Einige Jahrzehnte später fragte der polnisch-jüdische Reformpädagoge Janusz Korczak: »Wie soll man ein Kind lieben?« Dieser Gedanke wird heute durch pauschale Forderungen nach mehr Disziplin und »Grenzen setzen« übertönt. Die Opfer von Winnenden, die unglücklichen Eltern des Attentäters und der Tod des Amokläufers selbst können dazu führen, sich mit neuem Ernst diesen Fragen und den großen Herausforderungen von Erziehung zu stellen.
Der Autor ist Publizist und Erziehungswissenschaftler an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main.