Antisemitismus

Sowjetische Methoden

von Christian Jahn

Fast drei Jahre lang konnte Israel Silberstein als Rabbiner in seiner Gemeinde in Wladiwostok arbeiten. Dann ging alles ganz schnell. Im Februar verfügte ein Gericht in der Großstadt an der russischen Pazifikküste Silbersteins Ausweisung. Der 26-Jährige darf innerhalb der kommenden fünf Jahre nicht mehr nach Russland einreisen. Begründung des Gerichts: Im Visum des Rabbiners war als Aufenthaltsgrund »Arbeit im kulturellen Bereich« angegeben. Silberstein habe aber als Rabbiner gearbeitet. Diese Tätigkeit sei durch den im Visum verzeichneten Aufenthaltsgrund nicht abgedeckt. Folglich habe Silberstein ohne Arbeitserlaubnis gearbeitet.
Illegal? Fast drei Jahre lang ohne jede behördliche Beanstandung? Sonst diplomatisch zurückhaltend, kritisierte Russlands Oberrabbiner Berl Lasar, der zugleich Vorsitzender der Föderation der jüdischen Gemeinden (FEOR) ist, das Vorgehen der Behörden scharf. Im Interview mit der Nachrichtenagentur Interfax sprach Lasar von einem Präzedenzfall. Die Behörden in Wladiwostok hätten formale Gründe gesucht, um den Rabbiner ausweisen zu können. Das Vorgehen torpediere die Anstrengungen der russischen Regierung, die Be- völkerung in der Wirtschaftskrise zu einen und seelischen Halt zu geben, indem die traditionell im Lande vertretenen Religionen gefördert werden. »Ich weiß nicht, ob sich die Initiatoren dieser antisemitischen Handlungen so weitreichende Ziele setzen, aber ich will auf keinen Fall, dass man im Ausland über unser Land mit den Begriffen spricht, mit denen über die Sowjetunion geredet wurde«, sagte Lasar in Anspielung auf den staatlich verordneten Antisemitismus in der Sowjetunion.
Vor allem wegen des von Lasar wiederholt geäußerten Antisemitismusverdachts verfolgen die Medien den Fall aufmerksam. Ein Verdacht, der auf den ersten Blick sehr plausibel wirkt: War Silberstein nicht im vergangenen November überfallen und zusammengeschlagen worden? Er selbst sprach zwar von einem »gewöhnlichen Raubüberfall«, doch die Zeitungen hielten ein antisemitisches Motiv für möglich.
Semjon Tscharny von der Bürgerkammer, einem staatlichen Gremium zur Stärkung der Bürgergesellschaft, glaubt indes, dass Antisemitismus nicht zwingend eine Rolle bei der Ausweisung gespielt habe. »Ich denke, es handelt sich um eine unangemessen harte Auslegung der Gesetze durch die zuständigen Behörden.« Die Bürgerkammer hat einen Brief an den Föderalen Migrationsdienst geschrieben. Darin fordert sie, die Gesetze im Fall Silberstein mit der bisher praktizierten Toleranz auszulegen. Im Gegensatz zu den Beamten in Wladiwostok hält die Bürgerkammer es für legitim, die Tätigkeit eines Rabbiners als »Arbeit im kulturellen Bereich« zu bezeichnen.
»Das eigentliche Problem ist eine Lücke in der Gesetzgebung«, analysiert Tscharny. »Wenn ausländische Geistliche ein Visum beantragen, können sie als Aufenthaltsgrund nicht angeben, dass sie als Geistliche arbeiten wollen. Dieser Aufenthaltsgrund steht nicht zur Auswahl.« Sie seien folglich gezwungen, einen anderen Grund anzugeben – ein Problem nicht nur für jüdische Geistliche.
Auch der Rechtsstatus muslimischer, katholischer und protestantischer Geistlicher aus dem Ausland ist ungeklärt. Die Ausweisung droht jederzeit. Nach Angaben von Lasars Assistent Andrej Glotser wurden zwischen 1998 und 2003 insgesamt 30 Geistliche aus Russland ausgewiesen – darunter Juden, Katholiken, Protestanten und Muslime.
Die einzige Glaubensgemeinschaft, die keine Nachteile von der gültigen Gesetzgebung hat, ist die Russisch-Orthodoxe Kirche. Besteht die Lücke in der Gesetzgebung womöglich nicht zufällig? Soll sie verhindern, dass andere Glaubensgemeinschaften ihre Arbeit in Russland entfalten?
Vater Georgi Roschtschin vom Sekretariat für internationale Beziehungen des Moskauer Patriarchats will das nicht kommentieren. »Wir vertreten grundsätzlich die Position, dass Kirche und Staat voneinander getrennt sein müssen. Wenn es tatsächlich eine Lücke in der Gesetzgebung gibt, müssen sich staatliche Stellen damit beschäftigen«, ist seine diplomatische Antwort. Und wie steht es um die Solidarität mit der FEOR gegen die harte Gesetzesauslegung im Einzelfall Silberstein? »Bisher haben wir noch nicht öffentlich Stellung genommen. Aber der Fall wird sicher innerhalb der Kirche diskutiert«, sagt Roschtschin wage.
Den Kampf für einen geregelten Rechtsstatus von ausländischen Geistlichen führt die FEOR vorerst allein. Im Fall Silberstein hat sie Berufung bei der nächsthöheren gerichtlichen Instanz eingelegt. Bisher ohne Ergebnis. Wie nötig der hartnäckige Protest in jedem Fall ist, wurde noch vor Silbersteins Ausreise Ende Februar deutlich. In der südrussischen Stadt Stawropol verfügte ein Gericht in einem fast analogen Prozess die Ausweisung des städtischen Rabbiners Zwi Herschkowitsch.

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