Aufmarsch in den Köpfen
von Samuel Salzborn
Auseinandersetzungen um die Deutung des Vergangenen finden an vielen gesellschaftlichen Orten statt: den großen, offiziellen des Politischen und den kleinen, unauffälligen des Alltäglichen. Soziologisch gesprochen findet der Kampf um Geschichtsbilder sowohl auf der Vorder-, als auch auf der Hinterbühne statt. Während geschichtspolitische Sinnstiftungsversuche wie zuletzt der von Günther Oettinger im medialen Rampenlicht stattfinden und jeder Wandel der szenischen (Selbst-)Inszenierung der Akteure genau verfolgt wird, bleiben die im Selbstverständnis nicht als politisch begriffenen erinnerungspolitischen Akte oft Teil der medial nicht zur Kenntnis genommenen Wirklichkeit. Oft, aber nicht immer.
So geschehen im Streit um die Berliner Treitschkestraße. Die Diskussion um deren Umbenennung holt ein Element des Alltags auf die Vorderbühne. So lange, wie der Straßenname nur die Hausbewohner interessierte, wirkte er aber nicht weniger sinnstiftend. Nur die Ebene war eine andere: Der Name des berühmten Berliner Antisemiten prangt auf Briefköpfen, steht in Personalausweisen und taucht hier bei einer Bankkontoeröffnung auf, dort in einer Kleinanzeige im Gebrauchtwagenmarkt.
Auf dieser Hinterbühne prägte der Straßenname einen Teil des Alltags der Menschen. Und suggerierte damit die Normalität des Antisemitismus – denn Straßen werden in aller Regel nach etwas benannt, das verehrt oder bewundert wird. Ob den Straßenbewohnern dabei bewusst ist, wer Treitschke war, spielt bezüglich des Transports antisemitischer Erinnerung keine wesentliche Rolle. Denn die antisemitische Sinnstiftung erfolgt in einem überindividuellen Prozess, der im öffentlichen Raum abläuft und diejenigen Menschen in ihrem antisemitischen Wahn bestärkt, die diesen teilen. Der Psychoanalytiker Ernst Simmel hat dies als intellektuelle Partizipation am antisemitischen Kollektiv beschrieben. Die Masse tritt dabei nicht real in Form einer Massenansammlung auf, sondern als gefühlte und damit intellektuell konstituierte Masse. Der Aufmarsch findet im Kopf statt, nicht auf der Straße.
Würde also der Antisemit bei besagter Bank arbeiten oder die Antisemitin den Gebrauchtwagenmarkt studieren, könnte die Nennung der Treitschkestraße für sie Anlass sein, den Glauben an das antisemitische Kollektiv zu stärken. Treitschke wäre die symbolische Klammer zur Verknüpfung von Vergangenheit und Gegenwart, Integrationsfigur für die Annahme einer (potenziellen oder realen) Gesellschaftsfähigkeit des Antisemitismus. Und selbst wenn die Antisemiten nicht wüssten, wer Treitschke war, wäre ein Verschwinden seines Namens im öffentlichen Nahraum kein Nachteil: Es würde das antisemitische Integrationspotenzial reduzieren, da Treitschke nicht mehr öffentlich als legitimer Bestandteil des positiven deutschen Selbstbildes dargestellt würde – denn nichts anderes symbolisieren Straßennamen.
Die Umbenennung würde damit ein antisemitisches Symbol entfernen, bliebe aber angesichts Tausender anderer Straßennamen letztlich auch nur symbolisch. Denn die deutschen Straßenregister sind voll von Hinwendungen zum völkischen Denken, deren Änderung zumeist auf Widerspruch aus der gesellschaftlichen Mitte stoßen würde. Zu denken ist hier etwa an die in fast keinem noch so kleinen Ort fehlende Sudeten(land)straße, die positiv auf die völkische, antidemokratische und antisemitische Bewegung der Sudetendeutschen Bezug nimmt. Insofern bleibt die Frage, ob Treitschke oder auch die Sudeten im hegemonialen deutschen Geschichtsbild zwar ihren zu kritisierenden, aber doch mehrheitsfähigen Ort haben, bei einer Umbenennung freilich unberührt. Sie ist aber auch unerheblich, da sich ein Kampf gegen Antisemitismus so oder so nicht am normativen Postulat bundesdeutscher Geschichtspolitik orientieren sollte. Insofern: Jede antisemitisch benannte Straße weniger ist ein antisemitisches Symbol weniger.
Naives Vertuschenvon Martin Sabrow
Straßennamen sind seit jeher Austragungsorte geschichtspolitischer Deutungsgefechte, an denen sich die Stellung einer Gegenwart zu ihrer Vergangenheit ablesen lässt – dem Umbruch folgt der Schilderwechsel. Doch manche Namensgebung überdauert den Wandel der Zeit, weil sie bei der Neuanpassung übersehen wurde, weil ihr Ursprung in Vergessenheit geraten ist oder auch weil ihre spätere Anstößigkeit nicht so eindeutig fassbar ist, dass eine Neubenennung genügend Unterstützung findet.
In Berlin lässt sich die konfliktreiche Nachjustierung unseres Geschichtsbilds gegenwärtig an einer doppelten Namensdiskussion ablesen, die zum einen die bisherige Koch- und zukünftige Rudi-Dutschke- Straße in Kreuzberg, zum anderen die Treitschkestraße in Steglitz betrifft. Im ersten Fall geht es um eine historische Neunominierung, bei der darüber debattiert wird, ob die Ehrung einer Ikone der Studentenbewegung in unmittelbarer Nähe zur nicht weniger programmatischen Axel-Springer-Straße nicht die bezirkliche Neutralitätspflicht verletzt.
Spiegelbildlich verhält es sich im zweiten Fall, der die Ausmusterung des deutschen Historikers und Staatswissenschaftlers Heinrich von Treitschke aus dem Pan- theon der öffentlichen Geschichtserzählung zum Thema macht. Tatsächlich lässt sich der einflussreiche Berliner Lehrstuhlnachfolger Leopold von Rankes, der nach 1870 der konservativen und machtstaatlichen Wende des akademischen Bürgertums den historischen Unterbau lieferte, in seiner heutigen Ehr-Würdigkeit nicht eben gut verteidigen. Längst verblasst ist der Ruhm seiner fünfbändigen Deutschen Geschichte im 19. Jahrhundert, die den »Herold der Reichseinigung« für Jahrzehnte zu einem kanonischen Autor des nationalen Bürgertums machte. Soweit Treitschke heute noch öffentlich Erwähnung findet, dann vornehmlich im Kontext des seinerzeit als »Treitschkiade« bekannt gewordenen Antisemitismusstreits von 1880/81. Mit seiner von antijüdischen Ressentiments durchzogenen Forderung gegenüber »unseren israelitischen Mitbürgern [...], sich schlicht und recht als Deutsche (zu) fühlen«, verlieh Treitschke dem Antisemitismus der Kaiserzeit akademische Weihe und ließ sich in seiner Polemik gegen ein drohendes »Zeitalter deutsch-jüdischer Mischcultur« auch vom öffentlichen Widerspruch seines Fachkollegen Theodor Mommsen nicht beirren.
Niemand, der bei demokratischem Verstand ist, käme heute auf die Idee, jemanden mit einem Straßennamen neu zu ehren, der im Kampf gegen eine jüdische Sonderidentität im preußisch-deutschen Machtstaat die Parole prägte, die kein halbes Jahrhundert später die Nationalsozialisten übernehmen sollten: »Die Juden sind unser Unglück«. Aber Benennen und Belassen ist nicht dasselbe. Die Treitschkestraße stellt nicht so sehr den öffentlichen Grundkonsens gegenüber der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts in Frage als vielmehr unsere Bereitschaft, der Vielschichtigkeit und Verschlungenheit dieser Geschichte öffentlich Raum zu geben.
Berlin ist voll mit Straßennamen, die an Persönlichkeiten erinnern, deren antisemitische Haltung der Treitschkes in nichts nachstand. Wollen wir uns von den Friedrich-, Bismarck- und Wilhelmstraßen trennen, vom preußi- schen Generalszug zwischen Tauentzien- und Blücherstraße, womöglich auch von den Einrichtungen und Straßen, die nach Gustav Freytag oder Theodor Fontane heißen?
Man müsste es wohl aus guten symbolpolitischen Gründen, wenn die Republik in Gefahr wäre – wie etwa nach 1919, als auf demokratischer Seite der Ruf laut wurde, der politischen »Welle von rechts« mit entschlossenem Vorgehen auch gegen monarchische Straßennamen zu begegnen. Aber nicht die Republik ist heute in Gefahr und auch nicht ihr antitotalitärer Grundkonsens, sondern allein die Komplexität unseres öffentlichen Geschichtsbewusstseins, wenn es im Spiegel der Vergangenheit nichts mehr als die Wertewelt der Gegenwart zu sehen wünscht.
Gewiss: Ein Stadtplan ist kein Museum, und öffentliche Erinnerungen, die einer späteren Zeit zum Ärgernis geworden sind, müssen zurückgenommen werden können. Aber wo eine Stadt überhaupt die Vergangenheit im Gedächtnis behalten will, sollte sie nicht zu vertuschen versuchen, dass Zivilität und Barbarei in der Geschichte oft unentwirrbar miteinander verschlungen sind: Auch der uns so viel näher stehende Theodor Mommsen verteidigte im Antisemitismusstreit weniger das Judentum seiner Mitbürger als vielmehr seine eigene politische Heimat, den Liberalismus. Im Kern der Sache selbst, dass nämlich die Juden jede »Sonderart« abzulegen und sich der deutschen Mehrheitsgesellschaft anzupassen hätten, wusste er sich mit Treitschke durchaus einig.
Treitschkes Name aus dem Straßenverzeichnis zu streichen, kostet wenig. Teurer könnte auf Dauer zu stehen kommen, dass auf diese Weise auch das Wissen um eine vergangene Denkwelt ärmer wird, in der ein gefeierter Praeceptor Germaniae aggressiver Publizist und interdisziplinär denkender Fachwissenschaftler, liberaler Nationalist und antisemitischer Verfechter jüdi- scher Akkulturation zugleich sein konnte.