Miteinander stärken
von Karl Günther
Bis Anfang der 90er Jahre waren die Jüdischen Gemeinden in der Bundesrepublik und erst recht in der ehemaligen DDR ein fast völlig unbedeutender, teilweise in Watte verpackter, winziger Gesellschaftsteil, der bestenfalls in der Woche der Brüderlichkeit scheu und verschämt kurz in der Öffentlichkeit auftauchte. Dies hat sich erheblich geändert. Wir Juden in Deutschland sind wieder wer! Wir stellen an diesen, »unseren« Staat moralische, ethische, politische, gesellschaftliche und auch finanzielle Ansprüche. Dementsprechend können wir uns nicht in ein Schneckenhaus verkriechen oder eine Mauer um uns herum errichten, sondern sollten uns – selbstverständlich unter Beibehaltung unserer jüdischen Identität – in die Gesellschaft einbringen und integrieren, uns als einen Bestandteil derselben verstehen und uns mit ihr identifizieren. Das gilt auch bei besonderen Anlässen wie der Fußball-WM, die das große Thema dieser Tage ist. So bietet etwa die evangelische Kirche zahlreiche WM-Aktionen an und auch jüdische Gemeinden engagieren sich, etwa bei multikulturellen Fußballspielen (vgl. Seite 17).
Begrüßenswerte öffentliche Aktivitäten sind bereits seit einiger Zeit im Gange, wie das Anzünden von Chanukka-Lichtern in den Stadtzentren, Veranstaltungen zum Israel-Tag, der Jerusalemtag, jüdische Straßenfeste und Basare, Sraßenumzüge mit Torarollen, die in die Synagoge gebracht werden und so weiter. Die Synagogengemeinde Köln hat mit der Einladung und dem Besuch des Papstes im vergangenen Jahr einen Glanzpunkt gesetzt.
Eindrucksvoll und beispielhaft ist die Art und Weise wie sich meine Gemeinde, die mit 600 Mitgliedern verhältnismäßig kleine Jüdische Gemeinde Mannheim, als lebendiger, nicht mehr wegzudenkender öffentlicher Bestandteil der Stadt und der Region etabliert hat: Es ist nicht ungewöhnlich, daß der Oberbürgermeister, Stadt- ratsmitglieder, Landtagsabgeordnete oder andere Würdenträger, einschließlich der Geistlichkeit – ob Priester, Pfarrer oder Imam – wie auch viele andere nichtjüdische Mitbürger an unseren Veranstaltungen, aber auch an ganz normalen Schabbat- oder Feiertagsgottesdiensten teilnehmen. In unse- rem 1987 fertiggestellten Gemeindezentrum finden auch zahlreiche Veranstaltungen von nichtjüdischen Organisationen, Firmen, Gruppen und Familien, wie Seminare, Schulungen, Zusammenkünfte, Familienfeiern (auch türkische/muslimische Hochzeiten) statt. Hierbei wird selbstverständlich auf die Einhaltung des Schabbat und der Kaschrut-Vorschriften in der Küche großen Wert gelegt.
Über Synagogenführungen hinaus, die auch andernorts durchgeführt werden, öffnet sich die Gemeinde auch der breiten Öffentlichkeit. So auch unlängst im Frühjahr, als wir in der »Nacht der offenen Museen, Kirchen und Kultureinrichtungen« mehr als 3.000 Besucher in unserem Haus begrüßten. Neben Film-, Multimedia- und verbalen Vorträgen (auch in der Synagoge) erfreute sich das zu diesem Anlaß einge- richtete Café Schalom, in dem jüdische und israelische Speisen und koscherer Wein (der schmeckt ja gar nicht anders!) serviert wurden, enormen Zuspruchs. Der jährliche Frühlingsball der Gemeinde ist einer der gesellschaftlichen Höhepunkte für die Juden und Nichtjuden der Stadt. Gemeinde- und speziell Vorstandsmitglieder sind auch in den diversen Gremien und Institutionen der Stadt, der Region und des Landes auf kulturellem, sozialem, gesellschaftlichem und politischem Gebiet aktiv. Die Stadt Mannheim hat bereits zwei (Vorstands-) Mitglieder mit ihrer Ehrenamt-Medaille ausgezeichnet, und zwar für Tätigkeiten innerhalb der Gemeinde, wie Chewra Kadischa, Senioren-, Kinder-, Zuwanderer- und Krankenbetreuung.
Indem wir uns offen präsentieren und sowohl als Gemeinden und Institutionen wie auch als individuelle jüdische Bürger am Geschehen in diesem Lande aktiv teilnehmen, helfen wir Vorurteile und Ressentiments abzubauen und tragen zu einem friedlichen Miteinander der Kulturen bei.
Nicht beliebig sein
von Rabbiner Walter Rothschild
Die Welt ist zu Gast bei Freunden und zu Hause in den Gotteshäusern. Unser Motto ist: offen sein. Das ist wohl die einzige Möglichkeit die verlorenen Schäfchen zurückzubekommen, so daß unsere schönen Kultusgebäude nicht ganz leer stehen. Wir leben in einer Zeit, in der alle religiösen Institutionen um die menschlichen Seelen kämpfen müssen. Religiös zu leben und an den Gottesdiensten teilzunehmen, ist nicht mehr selbstverständlich. Deswegen haben wir vom modernen Marketing gelernt. Der Religionsmarkt ist voll mit günstigen Angeboten, flexiblen Zeiten und neuen Produkten, die den Menschen in die Synagogen und Kirchen locken können. Die Offenheit scheint unbegrenzt zu sein. Um dem menschlichen Bedürfnis nachzugeben, haben manche evangelischen Kirchen sogar ihre Räume mit Bildschirmen versorgt. Ein dänisches Sprichwort sagt: Es ist besser, in einer Kneipe zu sitzen und an die Kirche zu denken, als in einer Kirche zu sitzen und an eine Kneipe zu denken. Jetzt kann man in Gemeinderäumen sitzen und Fußball gucken. Und doch sollte man meinen, es ist schöner, das Spiel in einer Kneipe anzugucken.
Unsere Synagogen sind noch nicht so weit. Aber auch sie bieten den Menschen alles, was denkbar und manchmal sogar undenkbar ist, und was mit der Religion überhaupt nicht verbunden ist. Die Gemeinden bieten Discos, Partys, Schach- und Sportklubs, Tanz-, Mal-, Koch-, Yogaunterricht, Ausflüge und hunderte andere Sachen. Ein riesiges Paket von Angeboten, in dem das Judentum nur einen sehr bescheidenen Platz genießt. Religion ist nicht mehr attraktiv, das Wort erschreckt und hält Menschen von den Synagogen fern, als ob sie eine Pest sei. Es gab sogar in einer Gemeinde eine Diskussion, Religionsunterricht für die Kinder in »Traditionsunterricht« umzubenennen. Kinder und Eltern würden vom Wort »Religion« abgeschreckt.
Das Paradox scheint zu sein: Je mehr wir äußerlich »offen« sind, desto leerer werden unsere Gotteshäuser. Die großen christlichen Kirchen haben in den vergangenen Jahrzehnten einen spürbaren Mitgliederverlust erlitten. Das brachte vor allem die evangelische Kirche auf den Gedanken, sich zu öffnen und de facto fast auf alles zu verzichten, was dem modernen Menschen unattraktiv erscheinen mag. Die Diskussion um Scheidung und Segen für homosexuelle Paare ist nur ein Beispiel. Neue Mitglieder sind aber nicht in erwarteten Zahlen gekommen, viele alte und treue Mitglieder haben die Gemeinden verlassen. Vielleicht haben wir die alte Weisheit vergessen: »Wenn du einen Menschen zerstören willst, gib ihm alles was er will.« Vielleicht ist die Offenheit, von der so viel gesprochen wird, die Deklaration unserer eigenen Leere?
Wir sind nicht mehr in der Lage mit unserer Religion zu überzeugen, also bleibt uns nur übrig, den Menschen alles zu geben, was sie sonst überall auch bekommen können. Wir verzichten auf unsere wichtigsten Werte und diskutieren, was wir noch aufgeben können, so daß Menschen sich bei uns bequemer und entspannter fühlen können – noch kürzere Gebete, eine kürzere Predigt, Übersetzung von antiken Texten in alle Sprachen, besseren Kiddusch, so daß nach ein paar Stunden Quälerei die Menschen sich doch belohnt fühlen können. You want it? We got it! Wir können Menschen alles erlauben und anbieten was sie wollen – trotzdem werden sie uns verlassen. Denn wenn sie in die Synagoge kommen, suchen sie vielleicht doch Religion, nicht Fußball?
Wenn wir die essentiellen Teile unserer Religion aufgeben, verlieren unsere Gemeindemitglieder das Interesse, und was viel schlimmer ist, den Respekt für uns und unsere Religion. Die Synagoge wird nie die Konkurrenz mit Diskos, Kneipen und Stadien gewinnen. Die Kraft der Religion liegt woanders. Religion kann helfen, Rahmen zu schaffen, die in der richtungslosen und verwirrten Gesellschaft so gesucht werden.
Die Menschen stellen die religiösen Institutionen auf eine harte Probe: Vertritt die Synagoge selbst das Judentum? Wenn nicht, dann ist sie nichts anderes als alle anderen weltlichen Angebote, nur eben nicht so gut. Ein Blick auf den Veranstaltungskalender einer Gemeinde verrät, daß auf eine religiöse Veranstaltung durchschnittlich ungefähr zehn säkulare kommen. Das kann wohl nur heißen, daß wir modern und offen genug sind. Vielleicht sollten die Gemeinden sich überlegen, wie sie sich nicht mehr für die Welt, sondern vielmehr für die eigene Religion öffnen können? Wenn keine ethische, moralische und geistige Herausforderung von der Seite der Religion gestellt wird, verliert man das Interesse und den Respekt. Vor der Öffnung nach außen steht eine innere Offenheit, die eigene Religion gründlich kennenzulernen, sie zu praktizieren und im Alltag zu leben.
Dann wird auch der interreligiöse Dialog, für den viele jüdische Gemeinden so enthusiastisch engagiert sind, mehr Sinn haben. Das ist zweifellos eine sehr heilige und wichtige Aufgabe. Aber die Voraussetzung dafür ist, selbst religiös zu sein. Wenn man seiner eigenen Religion und ihren Werten treu ist, kann man überhaupt erst von einer äußerlichen Offenheit sprechen.