Aufklärung
von Rafael Seligmann
Wem ist der Name Louis Barthou noch ein Begriff? Der ehemalige französische Außen- minister rühmte sich, der einzige namhafte Politiker außerhalb Deutschlands zu sein, der Adolf Hitlers Mein Kampf gelesen habe. Die Lektüre alarmierte Barthou. Er begriff, dass Hitler kein Wahnsinniger, sondern ein hochgefährlicher Verbrecher war, der ein klares Weltbild besaß. Und der daraus einen konkreten Fahrplan ableitete, wie er Deutschland unterwerfen, die Juden ausrotten, Russland und Osteuropa unterjochen, aber auch Frankreich durch einen »Vernichtungskrieg« ausschalten könnte. Barthou wollte eine Hitler-Abwehrfront bilden, da wurde er am 9. Oktober 1934 ermordet.
Damals wurde Hitler wahlweise dämonisiert oder als »Adolf Légalité« verniedlicht, dem man mit Beschwichtigungspolitik beizukommen hoffte. Dies hatte sich bereits in Deutschland als unbrauchbar erwiesen. Reichskanzler Kurt von Schleicher, der Hitler 1932 in seine Regierung einbinden wollte, war 1934 von dessen Häschern ermordet worden. Dennoch klammerte man sich in Europa an die Illusion, wenn man vor Hitlers radikalen Vorstellungen die Augen verschließe, werde er verschwinden wie ein Gespenst. Die Demokraten waren schlicht zu faul, Hitlers Mein Kampf zu lesen und daraus Konsequenzen zu ziehen.
Auch heute wollen in Deutschland Politiker, Wissenschaftler und Journalisten uns glauben machen, durch das Wegsperren von Mein Kampf in den Giftschrank der verbotenen Schriften den Albtraum des Neonazismus wenn nicht zu vertreiben, so doch abzumildern. Die Vorstellung ist schlicht naiv. Jeder, der das Machwerk lesen möchte, kann dies tun. Es genügt, im Internet den Begriff »Mein Kampf« einzugeben.
Der Grund des deutschen Publikationsverbots ist ein Selbstbetrug, der von Angst diktiert wird. Denn die Rechte an Mein Kampf liegen bis 2015 beim Freistaat Bayern. Dessen Regierung fürchtet eine frühzeitige Freigabe. Der Reiz des lange Verbotenen werde dazu führen, dass Mein Kampf auf der Bestsellerliste stehen würde. Mancher Schlaukopf würde dann den Deutschen eine Hitler-Nostalgie vorwerfen.
Kurzfristiger Imageverlust aber würde durch die Vorteile bei Weitem aufgewogen werden. Der entscheidende Pluspunkt heute wie zu Hitlers Lebzeiten wäre die objektive Information. Bislang wabern über Mein Kampf lediglich Gerüchte. So glaubt der britische Historiker Ian Kershaw, Grundzüge einer politischen Weltanschauung suche man in Mein Kampf vergeblich. Kershaw hat das Buch offenbar nicht gelesen. Joachim C. Fest wiederum meint, der Obernazi sei zu einer systematischen Arbeit nicht imstande gewesen. Falsch! Wer Mein Kampf liest, versteht, dass Hitler seine Vorhaben systematisch abarbeitete: die Entrechtung und Ermordung der Juden, die Zerstörung der deutschen Demokratie, der Vernichtungskrieg im Osten. Das alles ist in schlichter Sprache formuliert, doch durchaus verständlich. Wer Mein Kampf gelesen hat, wird nicht behaupten können, es habe keinen Völkermord an den Juden gegeben. Oder der Krieg Hitlers sei lediglich eine »Angstreaktion« auf Stalins Kriegspläne gewesen, wie es der Historiker Ernst Nolte tat.
Der aufklärerische Aspekt bewog demokratische Regierungen in aller Welt, Mein Kampf für die Leser freizugeben. Sie vertrauen auf die Einsicht ihrer Bürger. Solches Selbstvertrauen sollten auch die bayerische und die Bundesregierung aufbrin- gen und ihren Bürgern – wie Amerikanern, Briten, Israelis – die Möglichkeit einräumen, sich an der Quelle über die Unmenschlichkeit des Nazismus zu informieren und sich ein eigenes Urteil zu bilden.
Vernebelung
von Wolfgang Benz
Mein Kampf, der phrasenpralle Monolog des Autisten Adolf Hitler, ist nicht verboten. Dies wird oft und gern vermutet, um im Namen der Informationsfreiheit die Neuausgabe für Nachgeborene zu fordern. Das fast 800 Druckseiten starke Buch, 1924 und 1926 in zwei Teilen erstmals erschienen, seit 1930 in einem Band (mit immer neuen stilistischen und inhaltlichen Korrekturen) publiziert, war bis zum Ende des »Dritten Reiches« in rund zehn Millionen Exemplaren verbreitet und in 16 Sprachen übersetzt.
Von den zehn Millionen Exemplaren sind noch viele greifbar, in Privathaushalten wie in Bibliotheken. Auch im Internet wird man fündig, denn Provider interessieren sich so wenig wie Raubdrucker dafür, dass die Rechte vorläufig noch beim bayerischen Staat liegen, der – mit guten Gründen – Neuauflagen nicht genehmigt. Auch im Antiquariat ist Hitlers Bekenntnisschrift für wenig Geld zu haben – das Buch ist also präsent, und es besteht kein Bedarf an einer Neuinstallierung auf dem Buchmarkt, sei es als Reprint, Edition oder Textauswahl in einer Anthologie.
Kein Bedarf also, wohl aber ein Bedürfnis, das herbeigeredet wird. Da der Text selbst ohne Mühe und Aufwand jedem Interessierten zur Verfügung steht, muss man anders plädieren: Eine wissenschaftliche, von seriösen Historikern besorgte und verantwortete Edition soll es sein. Die Argumente sind politisch korrekt, aber nicht überzeugend: Um den Rechtsradikalen das Handwerk zu legen, um jeden sowohl naiven wie infamen Gebrauch des Textes zu unterbinden, sei die kritische Herausgabe vonnöten, in der die Irrtümer, die Auslassungen, die Lügen des Autors in Fußnoten erläutert, unterschiedliche Textfassungen philologisch nach den Regeln der Kunst der historischen Quellenkritik erklärt und dokumentiert sind. Die 800 Druckseiten des Originals lassen sich auf wissenschaftlich seriöse Weise mühelos verdoppeln. Aber kein Problem wird dadurch gelöst werden.
Jeder, der will, kann demnächst – nach Ablauf des Copyrights 2015 – den Text ins Internet stellen oder herunterladen, als wohlfeiles Buch drucken lassen und sonstwie verbreiten. Das geschieht auch jetzt schon vielfach und ist illegal, denn die Verbreitung des Werkes ist strafbar. Die Annahme, dem Missbrauch durch rechtsextreme Populisten und Neonazis sei durch eine wissenschaftlich sakrosankte Edition Einhalt zu gebieten, geht aber an aller Realität des Medienzeitalters vorbei. Neonazis werden ihre Kultbedürfnisse wohl kaum in der Weise stillen, dass sie ausschließlich den richtigen, den wissenschaftlich edierten Text ihres Idols zugrunde legen, wenn sie Hitler im O-Ton verinnerlichen wollen. Sie werden auch nicht ihren Zitatenschatz mit Hilfe der Geschichtswissenschaft verifizieren, sondern das Exemplar benützen, das Oma und Opa einst anlässlich ihrer Eheschließung dediziert bekamen, oder den Raubdruck, der in ihren Zirkeln kursiert. Und der Demokrat, der sich im persönlichen Quellenstudium eine Gewissheit über die Ideologie des Nationalsozialismus, über den Denker Hitler, über die literarische Qualität des Traktats verschaffen will, braucht nicht den geforderten Aufwand an Gelehrsamkeit. Schließlich wird auch das Geraune, nachdem das Buch verboten, sein Besitz strafbar sei, mit den Möglichkeiten der Wissenschaft nicht zu beenden sein. Mein Kampf als angeblich indiziertes Werk ist längst zum Mythos geworden. Nach aller Erfahrung wäre er auch nicht zu brechen, wenn jeder Haushalt ein Exemplar des Neudrucks gratis per Postwurfsendung zugestellt bekäme.
Der wichtigste Einwand aber ist der folgende: Den Erfolg des Demagogen Hitler, die Verführbarkeit seiner Zeitgenossen, den Jubel, mit dem so viele Deutsche dem Nationalsozialismus folgten, erklärt Hitlers Buch nicht. Denn Mein Kampf ist nicht die Blaupause nationalsozialistischer Herrschaft. Das Buch enthält nicht den Masterplan der Hitler-Diktatur und bringt weder Aufschluss über die Intention zum Judenmord noch zur Realisierung des Holocaust. Dass Hitlers Buch getränkt von Judenhass ist, dass er endlos über die Gewinnung von »Lebensraum« faselt, dass er seine Obsessionen und fixen Ideen wie in seinen Reden so auch im Buch ausagierte, ist weder neu noch erhellend.
Tatsache ist: Aus dem Buch Mein Kampf ist nichts mehr zu lernen. Es enthält keine ungelüfteten Geheimnisse und es löst keine Rätsel. Aber es ist unendlich bösartig und es ist unendlich langweilig. Sind das Gründe für eine historisch-kritische Edition oder einen banalen Neudruck?