Bleibt zu Hause!von Jonathan Tobin
Wenn Sportfans eines hassen, dann Leute, die ihnen mit dem Hinweis auf Politik den Spaß verderben. Sport ist Sport, und Politik ist Politik. Das ist die Haltung fast aller Sportfunktionäre und der meisten Regierungen zu den diesjährigen Olympischen Spielen in China. Die Boykottaufrufe gegen das Gastgeberland wegen seiner Tibetpolitik und seiner Unterstützung des genozidalen Regimes im Sudan stoßen bei ihnen auf taube Ohren. Sogar US-Präsident George W. Bush will an der Eröffnungszeremonie teilnehmen.
Die Gründe dafür liegen auf der Hand. Die Olympischen Spiele sind ein gigantischer Wirtschaftszweig, an dem viele verdienen, nicht zuletzt TV-Sender. Daher versucht man uns zu belehren, dass ein Boykott der Spiele den Menschen in China, in Tibet und im Sudan nichts bringen würde. Die einzigen Leidtragenden seien die Sportler, die nicht jahrelang umsonst trainiert haben sollen.
Die Situation erinnert an 1936. Auch damals blieben die Kritiker der Olympischen Spiele in Berlin erfolglos, weil die westlichen Regierungen eine Appeasementpolitik gegenüber Nazideutschland bevorzugten. Mit diesem Präzedenzfall im Hinterkopf gibt es keinen Grund anzunehmen, dass ein versprengtes Häufchen Nudniks und Politaktivisten, die etwas für Tibet oder Darfur tun wollen, heute Erfolg haben würde.
Obwohl Peking die sozialistische Ideologie größtenteils über Bord geworfen und seine Volkswirtschaft geöffnet hat, ist die Macht immer noch in den Händen der Kommunistischen Partei. Gleichzeitig waren die ökonomischen Verflechtungen zwischen dem Westen und China nie enger. Bis vor einigen Jahren musste das US-Abgeordnetenhaus Geschäfte amerikanischer Firmen mit China noch genehmigen; das ist heute Vergangenheit.
Der rasant steigende Wohlstand für manche hat zu einer gewissen Öffnung in China geführt, die aber ihre Grenzen hat; offene Kritik ist gefährlich. Auch wenn es in der Weltpresse kaum ein Thema ist: Der Laogai – die chinesische Variante des Gulag – ist nach wie vor in Betrieb, wenn auch nicht im selben Ausmaß wie früher.
Boykottgegner streiten das nicht ab, betonen aber, dass ein Boykott nur die chinesische Öffentlichkeit erzürnen würde. Die Chinesen wären in ihrem Nationalgefühl verletzt und würden dem Westen die Schuld geben, statt ihrer eigenen Regierung. Die Wahrheit ist leider, dass die chinesische Tibetpolitik in der Bevölkerung nicht unbeliebt ist, denn Nationalismus ist dort weit verbreitet.
Dennoch werden Proteste nicht dadurch illegitim, dass China nun einmal sehr mächtig und seine Bevölkerung leicht kränkbar ist. Die Verfolgung religiöser Minderheiten nicht nur in Tibet, sondern überall in China, sollte gerade für Juden ein Thema sein.
Manche befürchten, durch eine Unterstützung der tibetischen Unabhängigkeitsbewegung könnten sich die Palästinenser in ihrem Kampf gegen Israel legitimiert fühlen. Aber in Wirklichkeit gibt es keine Parallelen zwischen einem kleinen Land wie Israel, dass sich gegen Feinde verteidigt, die es vernichten wollen, und einer Weltmacht wie China, die die tibetische Kultur auslöschen will.
Kommen wir noch einmal zu der Behauptung, dass Politik nichts mit Sport zu tun hat. Die Olympischen Spiele mit ihren Nationalflaggen und -hymnen sind per definitionem ein politisches Ereignis. Die Olympischen Spiele 1936 waren ein Triumph für Hitler, nicht für seine Gegner. Die Chinesen hoffen, diesen Triumph noch zu übertreffen. Auch in diesem Jahr wären die Sportler nur die Spielfiguren von Verbrechern – so wie in München 1972, als die Spiele wichtiger waren als getötete Israelis. Die Olympischen Sommerspiele 2008 wären eine gute Gelegenheit zu zeigen, dass auch das mächtige und wichtige China sich nicht alles erlauben kann. Bush sollte zu Hause bleiben. Und alle anderen auch. Nutzt den Anlass!von Alan Posener
Wäre Selbstdemontage eine olympische Disziplin, Chinas Führung würde eine Goldmedaille nach der anderen abräumen. Auf die Proteste in Tibet reagierte Peking mit brutalster Repression. Als daraufhin der Fackellauf der Olympischen Flamme durch London und Paris zum Spießrutenlauf wurde, drohte China mit der Stornierung von Geschäften. Der Dissident Hu Jia wurde in einem Schauprozess zu dreieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Kritische Bemerkungen des IOC-Präsidenten Jacques Rogge zur Menschenrechtssituation in China wurden zensiert. Und als wollten die chinesischen Kommunisten der ganzen Welt die Zunge herausstrecken, liefern sie ihrem alten Klienten Robert Mugabe Waffen für den Krieg gegen sein Volk, das die Frechheit besaß, den greisen Diktator abzuwählen. Ist es nicht Zeit, einen Boykott der Olympischen Sommerspiele 2008 zu fordern?
Nein. Es war ein Fehler, die Spiele nach Peking zu vergeben. Es wäre ein größerer Fehler, sie jetzt zu boykottieren.
Die Vergabe der Spiele war ein politisches Zeichen. Damit sollte China einerseits als wirtschaftliche Supermacht anerkannt, andererseits ermuntert werden, Fortschritte in Sachen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu machen. Wenn das Internationale Olympische Komitee jetzt sagt, Sport und Politik dürften nicht vermengt werden, ist das also verlogen. Unter rein sportlichen Gesichtspunkten würde allein schon die Luftverschmutzung gegen den Olympia-Standort Peking sprechen.
Es ist absurd: Hätten die Tibeter nicht demonstriert, kein Mensch würde heute einen Boykott der Pekinger Spiele fordern. Dabei ist nicht erst seit gestern bekannt, dass die chinesische Führung nicht nur im eigenen Land Minderheiten und Meinungsfreiheit unterdrückt, sondern dass sie hinter so unappetitlichen Regimes wie dem nordkoreanischen Atomspinner Kim Jong Il, der Militärjunta in Myanmar und den Islamisten im Sudan steckt; von ihrer Bedrohung Taiwans und ihrer Blockade wirksamer Sanktionen gegen die Atompläne der iranischen Theokraten ganz zu schweigen.
Die Tibeter haben das IOC und den Westen beim Wort genommen. Sie haben die Tatsache, dass China mit Beginn des Olympischen Fackellaufs im Scheinwer-ferlicht der Weltöffentlichkeit steht, ausgenutzt, um auf ihr Anliegen aufmerksam zu machen. Von jetzt an bis zum Ende der Spiele werden die Kommunisten diesem Scheinwerfer nicht entkommen können. Die Chinesen und das IOC wollten politische Spiele haben. Die haben sie bekommen, aber anders, als sie es sich vorgestellt haben, und das ist gut so.
Vergleiche mit den Olympischen Spielen 1936 in Berlin offenbaren mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten. Deutschland war 1936 auf dem Weg in die Diktatur und den Krieg. China befindet sich auf dem langen Marsch aus einer Diktatur heraus. Deutschland war 1933 aus dem Völkerbund ausgetreten. China ist Mitglied im Weltsicherheitsrat, in der Welthandelsorganisation und anderen internationalen Gremien, und es ist die erklärte Politik des Westens, das Land zu einem »Stakeholder« der internationalen Ordnung zu machen. Mit anderen Worten: Hu Jintao ist nicht Adolf Hitler.
Das Problem 1936 war nicht, dass die westlichen Demokratien an den Olympischen Spielen teilnahmen. Man kann sogar argumentieren, dass die vier Goldmedaillen für den schwarzen US-Athleten Jesse Owens und die zehn Medaillen für jüdische Athleten aus verschiedenen Ländern den Mythos der »arischen Rasse« als solchen entlarvten. Das Problem war, dass etwa die französische Mannschaft beim Einmarsch ins Stadion den »deutschen Gruß« entbot. Dass die Mannschaft der USA mehrere jüdische Sportler auf der Bank behielt. Dass Frankreich und Großbritannien Appeasement betrieben und dass die USA sich zu lange neutral verhielten.
Und 2008? Abgesehen davon, dass es falsch wäre, die Athleten, Besucher und TV-Zuschauer dafür zu bestrafen, dass man das falsche Olympia-Land gewählt hat, kann man davon ausgehen, dass die fortgesetzte Medienaufmerksamkeit und die Begegnungen in Peking der Opposition mehr nutzen werden als ein Boykott. Das Problem ist aber, dass sich die Politik nicht einmal zu einer klaren Minimalhaltung unterhalb des Boykotts durchringen kann. Das Europäische Parlament hat recht, wenn es die Staats- und Regierungschefs der EU auffordert, den Eröffnungsfeierlichkeiten fernzubleiben, wenn sich Peking nicht zum Dialog mit dem Dalai Lama bereit erklärt. Präsident George W. Bush hatte unrecht, als er voreilig erklärte, auf jeden Fall an der Feier teilnehmen zu wollen. Es könnte noch so weit kommen, dass ausgerechnet Europa den Präsidenten vorführt, der einmal erklärte, die Verbreitung der Demokratie in der Welt sei sein wichtigstes Anliegen.