Kein Geld für Söhne
von Gunnar Heinsohn
Hätte der Westen bis 1991 garantiert, dass er die Enkel und Urenkel der palästinensischen Flüchtlinge von 1948 weiter versorgt, die Palästinenser aber ab 1992 selbst für ihren Nachwuchs aufkommen müssten, würden heute die ersten Jungen ins »Kampfalter« von 15 Jahren treten und zugleich die einzigen Söhne ihrer Familien sein. Sie hätten Chancen auf eine berufliche Position und bräuchten keinen Heldentod als Alternative. Stattdessen wachsen im Gasastreifen auch noch 2007 drei Söhne pro Frau auf, weil der Westen seit 1950 über UNRWA, das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge, sämtliche Neugeborene als Flüchtlinge versorgt.
Seit Ende 2006 sind im Gasastreifen in etlichen Scharmützeln über 300 Menschen umgekommen. Schon 2005 brachten sich dort mehr junge Männer gegenseitig um, als im Kampf gegen Israel fallen. Neben den Judenmord ist längst der Brudermord getreten. Das Muster für Palästina liefert Algerien, wo Islamisten 1991 die Wahlen genauso überlegen gewannen wie 2006 die Hamas. Von sechs auf 26 Millionen Einwohner explodierte der Maghrebstaat zwischen 1941 und 1991. Als die Generäle die Wahl annullierten, kostete der gegenseitige Terror bald 200.000 Menschenleben. Ein Ventil für die Wut – wie es für die Palästinenser die Juden Israels darstellen –, stand nicht zur Verfügung. Der Kleinkrieg mit Marokko, das die Araber der Westsahara vernichtet, deren Flüchtlinge von Algerien unterstützt werden, absorbiert nur wenige Soldaten.
Weil nicht Is- raelis die Todfeinde waren, die gezielt und nicht wahllos zurückschlagen, sondern andere Algerier, lagen die Opferzahlen zwanzigmal höher als in Nahost. Und doch beruhigte sich das Land. 1991 kämpften noch die um 1970 Geborenen – eine Zeit, in der Algeriens Mütter sieben Kinder bekamen. Im Jahre 2005 aber schafften die Algerierinnen mit 1,9 Kindern nicht einmal mehr die Nettoreproduktion. Das Personal für weitere Gemetzel fehlt genauso wie etwa im Libanon (2 Kinder pro Frau) oder in Tunesien (1,8 Kinder).
Nicht nur für den Krieg gegen Israel, sondern auch für den Gasa-Bürgerkrieg ist im Wesentlichen Europa verantwortlich, weil es mit seinem 60-prozentigen Anteil am UNRWA-Budget Palästinenserinnen dazu verführt, nicht wie ihre Schwestern in Algerien oder im Libanon zu verhüten, sondern immer mehr Krieger großzuziehen. Deshalb ist der schmale Streifen am Mittelmeer allen Abwanderungen zum Trotz zwischen 1950 und 2007 von 250.000 auf 1,5 Millionen demografisch explodiert. Europa hat dafür gesorgt, dass bei den männlichen 15- bis 29-Jährigen die jüdische Seite ihre demografische Mehrheit verloren hat (610.000 gegen 690.000). Es hat die Vernichtungszuversicht der Hamas genährt, weil bei den 0- bis 14-Jährigen sich sogar 1,1 Millionen arabische Jungen auf den Kampf gegen 640.000 jüdische vorbereiten.
Europa sollte die palästinensische Regierung weiterhin boykottieren, anstatt mit seinem Geld die demografische Aufrüstung immer weiter anzutreiben. Man sollte dabei nichts von einer eventuellen Anerkennung Israels erhoffen. Ein solches Dokument würde von der nächsten Generation zerrissen werden. Wie soll jemand Juden in Frieden lassen, der nicht einmal seinesgleichen schont?
Altgediente Fatah-Kämpfer mögen, ob aus Resignation oder aus Einsicht, zum Frieden mit Israel bereit sein. Sie haben keinen Einfluss, weil der Gasastreifen in ihrer Altersgruppe der 55- bis 59-Jährigen gerade einmal 10.000 Männer hat. Die jüngste Fünfjahreskohorte der null- bis vierjährigen Knaben aber zählt 130.000. Auf der Westbank ist das Verhältnis mit 21.000 zu 192.000 kaum wesentlich anders. Deutschland zum Beispiel bleibt dagegen auch deshalb weitgehend friedfertig, weil es gerade noch 1,85 Millionen Knaben zwischen null und vier Jahren hat.
Nur auf dem Papier
von Philipp Gessler
Es ist ja so gut gemeint: Mit den üblen Feinden Israels, mit Leuten, die das Land schlicht von der Landkarte löschen wollen, möchten wir noch nicht einmal reden – geschweige denn ihnen Geld geben. Insofern war es richtig von der EU, die Hamas-Regierung der Palästinenser diplomatisch und finanziell zu boykottieren, solange sie nicht das Existenzrecht Israels anerkennt, der Gewalt abschwört und die bereits erreichten Friedensabkommen einhält. Nach einem Jahr aber bröckelt dieser Boykott, und das zu Recht: Er sollte ganz fallen gelassen werden!
Der Boykott ist de facto zu einer Farce verkommen. Norwegen hat als erstes westliches Land angekündigt, den Boykott zu beenden; der EU-Gesandte für den Nahen Osten, Marc Otte, traf sich mit dem palästinensischen Finanzminister Salam Fajjad; selbst der US-Generalkonsul und sein britischer Kollege wurden bei Fajjad vorstellig. Sicher, Fajjad gehört der Hamas nicht an, aber er dient unter seinem Kabinettschef Ismail Hanija von der Hamas. Otte sprach zudem mit dem palästinensischen Außenminister Siad Abu Amr, bei dem sich auch die Außenminister Belgiens und Schwedens sowie die Botschafter der Schweiz und Russlands angekündigt hatten.
Das zeigt: Die Unterscheidung zwischen »guten« und »bösen« Palästinensern kann in der neuen palästinensischen Einheitsregierung nur noch pro forma funktionieren. Und dass selbst US-Außenministerin Condoleezza Rice den Kongress in Washington nun aufgefordert hat, Geld ausgerechnet für die palästinensischen Sicherheitskräfte locker zu machen, weil diese Beträge ganz sicher nicht der Hamas zugutekommen, zeigt: Der Boykott steht nur noch auf dem Papier. Er ist so sinnlos wie die Hallstein-Doktrin: gut gemeint, aber auf Dauer wirkungslos.
Auch die finanzielle Seite des Boykotts ist allenfalls symbolisch. Die internationale Hilfe für die Palästinenser lässt schon jetzt die Hamas außen vor und ist vor allem als Notfallhilfe für die palästinensische Bevölkerung gedacht. Diese Summen aber sind UNO-Angaben zufolge von etwa 750 Millionen Euro im Jahr 2005 auf etwa 900 Millionen Euro im vergangenen Jahr gestiegen. Aus Europa kamen dabei rund 700 Millionen Euro, das ist ein Anstieg um 30 Prozent.
Und das ist auch richtig so, denn die EU will ja mit ihrem Boykott nicht das in seiner großen Mehrheit arme und Not leidende palästinensische Volk strafen, sondern eben nur die Hamas-Minister. Die aber werden durch den Boykott nicht wirklich getroffen – schon eher vielleicht durch die Weigerung Israels, den Palästinensern ihre beschlagnahmten Zoll- und Steuergelder zu überweisen, wodurch der palästinensischen Selbstverwaltung etwa drei Viertel der Einnahmen fehlen. Etwa 160.000 Gehälter werden nicht gezahlt, ein Viertel der palästinensischen Bevölkerung ist davon abhängig. Aber selbst Israels Premier Ehud Olmert hat neulich den Geldhahn für diese Beträge ein wenig weiter aufgedreht: Bereits Ende Dezember vergangenen Jahres hatte sein Kabinett beschlossen, umgerechnet bis zu 76 Millionen Euro dieses zurückgehaltenen Geldes freizugeben, ohne dass die Hamas auch nur eine der Grundforderungen Israels erfüllt hätte. Soll die EU in ihrem Hamas-Boykott also strikter sein als die USA, strikter als Israel selbst?
Schließlich und endlich: Auch die PLO vertrat, worauf der kluge frühere Botschafter Israels in Deutschland, Avi Primor, schon vor mehr als einem Jahr hinwies, grundsätzlich die gleiche Vernichtungsideologie wie die Hamas, als Israel 1992 mit den PLO-Führern die Oslo-Verhandlungen aufnahm.
Daran wäre zu erinnern, wenn heute die israelische Regierung mit Präsident Mahmud Abbas von der Fatah, der Partei Arafats, spricht. Außerdem sollte auch nicht in Vergessenheit geraten, dass sich die Hamas schließlich weitgehend an die vor etwa zwei Jahren verkündete Waffenruhe hält, während die Milizen der Fatah noch immer regelmäßig an Angriffen auf Israelis beteiligt sind. Warum also mit Abbas von der Fatah reden, mit Hanija von der Hamas aber nicht?
Nein, der ganze Boykott ist nicht logisch – und am Ende auch kontraproduktiv. Durch dieses Ausgrenzen der Palästinenser kommt man dem Frieden keinen Schritt näher. Eine solche Strategie mag in der Theorie sauber, klug und vielversprechend sein, in der Praxis, in der harten Realpolitik des Nahen Osten, kommt man so keinen Schritt weiter. Man macht eben Frieden mit seinen Feinden, nicht mit seinen Freunden. Und dazu muss man mit diesen Feinden reden.
Auch die Ostpolitik Willy Brandts entsprach nicht der reinen Lehre und war immer in der Gefahr, die Diktaturen im Osten zu stabilisieren. Am Ende aber half sie, sie zu stürzen.