von Chajm Guski
Das Internet boomt. Und mit dem World Wide Web wächst täglich auch die Zahl der Jüdinnen und Juden, die die neuen Möglichkeiten des Netzes für sich nutzen. Seit Kurzem ist beispielsweise shulshopper.com online, die Initiative eines jungen Mannes aus Jerusalem. Auf Shulshopper können Jüdinnen und Juden nach Gemeinden und Gruppen suchen, die genau ihren Bedürfnissen entsprechen. Soll die Gemeinde orthodox sein, lieber liberal oder rekonstruktionistisch? Was sagen andere Besucher? Wer sind die Nutzer überhaupt? Jeder kann Synagogen und Gemeinden auf der Seite veröffentlichen und bewerten. Schon nach zwei Tagen hatten sich 90 Gemeinden aus den USA und Israel eingetragen, und es werden sicherlich weitere aus der ganzen Welt folgen. Denn shulshopper ist Ausdruck eines Trends. Eine neue Technologie, die »soziale Software«, ermöglicht es, Seiten zu erstellen, deren Inhalte in erster Linie durch die Nutzer selbst bestimmt und kontrolliert werden. So entstehen richtige Gemeinschaften.
Alles ganz einfach. Für eine Kontaktaufnahme braucht man nur einen Mausklick. Die jüngere Generation kann heute in nie dagewesener Form Judentum kennenlernen. Informationen aus jüdischen Medien aus nahezu allen Ländern sind direkt abrufbar. Bücher, Judaica und Koscheres müssen nicht mehr von Verwandten mitgebracht werden – sie können einfach bestellt werden. Selbst globale Partnersuche zwischen Bits und Bytes ist nun möglich.
Dreh- und Angelpunkt der neuen Webwelt ist die Möglichkeit, schnell Gleichgesinnte zu treffen und dann an Ort und Stelle, in der realen Welt, ein ebenso reales so-ziales Netzwerk zu knüpfen. Kann das funktionieren? Kein Zweifel: Die neuen Technologien sind eine gewaltige Werkzeugsammlung für die Erweiterung des eigenen Horizontes und ein Nährboden, um sich ständig weiter zu entwickeln, ja sogar neu zu erfinden.
Eine ganz andere Art der sozialen Software ist dagegen »Second Life«. Dort kann man sich in einer künstlichen Welt mit allem Drum und Dran bewegen, andere Nutzer ansprechen oder an virtuellen Veranstaltungen teilnehmen. Mittlerweile gibt es sogar eine Synagoge (vgl. S. 9). Doch ausschließlich virtuelle Welten wie »Second Life« sind wenig hilfreich, wenn es um die Herausbildung von real existierenden Gemeinschaften geht. Denn das World Wide Web ist eben auch ein Fluchtweg aus der realen Welt. Eine Wirklichkeit wird nur abgebildet, eine Rückkopplung mit der Welt vor dem Monitor findet nicht statt. Wenn sich zehn Juden virtuell in einer Synagoge treffen, die nur in Form von Daten existiert, dann kann man nicht von einer Gemeinschaft sprechen, sondern nur von einem zufälligen Aufeinandertreffen von Computernutzern, die ihr elektronisches Alter Ego in den gleichen virtuellen Raum gesteuert haben. Die Chancen, dass daraus etwas entsteht, das über die Onlinezeit hinaus Bestand hat, sind eher gering. Zu schnell bietet die virtuelle Welt etwas Neues, Aufregenderes.
Wer sich hier auf die Suche nach einer jüdischen Gemeinschaft macht, der ist auf dem falschen Weg. Denn in Welten wie »Second Life« dreht sich alles um sich selbst, ist Selbstzweck. Warum sollte man dort miteinander kommunizieren, wenn es auch direkt geht?
Das Modell Shulshopper weist einen anderen Weg. Jüdische Gemeinden werben für sich und werden bewertet. Was das bedeutet, liegt auf der Hand: Die Gemeinden müssen flexibel reagieren und »dabei« sein. Ein hipper Internetauftritt reicht nicht aus. Die Institutionen selber müssen flexibel auf die neuen Anforderungen reagieren. Denn plötzlich können ihre Mitglieder über einen vorgegebenen Tellerrand hinaus blicken. So werden Erwartungen geweckt. Warum bin ich nicht mit den Juden aus meiner Umgebung vernetzt? Welche Projekte werden angeboten? Und die Gemeinden in den USA reagieren, tragen sich ein, werden Teil des Netzwerkes um sie herum und bieten sich als Anlaufstellen an. Hier wird nicht gewartet, bis andere Organisationen handeln.
Noch ist das Gemeindeleben in Deutschland davon recht weit entfernt. Doch je mehr hiesige Internetnutzer von der Welt da draußen sehen, desto neugieriger werden sie sein und nach dem jüdischen Leben suchen, das in anderen Ländern der Diaspora selbstverständlich ist. Diejenigen, die eine Anlaufstelle anbieten, können den Trend für sich nutzen und die User davon abhalten, ihre Zeit in ausschließlich virtuellen Räumen zu verbringen, weil vermeintlich nur dort etwas los ist.