Wie der Prozess gegen den Massenmörder John Demjanjuk in München auch immer ausgehen mag, der Sieger steht jetzt schon fest: Demjanjuk. Er hat fast 90 Jahre lang gelebt und genießt die Liebe seiner Familie, seiner Kinder und Enkel. In seinem Heimatort und in vielen Teilen der Welt gilt er als Held. Wenn er stirbt, werden seine Kinder und Enkel Tränen der Trauer und des Stolzes vergießen. Unterm Strich hat er erreicht, was er den Tausenden seiner Opfer verwehrt hat, nämlich die Möglichkeit, Nachkommen zu haben und zu sehen, wie sie ein glückliches und erfülltes Leben führen.
Mit diesem Sieg ist Demjanjuk nicht allein. Die große Mehrheit der Nazi-Massenmörder hatte ein gutes, erfülltes Leben. Holocaustüberlebende hatten weit mehr un- ter Traumatisierung, seelischen Schäden und auch Schuldgefühlen zu leiden als ihre Bedränger. In dieser moralisch verkehrten Welt waren ehemalige SS-Mitglieder stolz auf ihren Lebenslauf, während viele Opfer ihr Opfer-Sein vor Familie, Freunden und Arbeitgebern zu verstecken suchten.
Viele sind der Meinung, dass es erst dann Gerechtigkeit geben wird, wenn die Schuldigen verurteilt sind. Aber die kann es für den Holocaust niemals geben. Das bedeutet nicht, dass es kein Gerichtsverfahren geben soll. Wir sollten nur nicht erwarten, dass dadurch Gerechtigkeit hergestellt wird.
rache Vor einigen Jahren, nachdem ich jahrzehntelang über die Unmöglichkeit der gerechten Strafe für die Schuldigen des Holocaust nachgegrübelt hatte, schrieb ich einen Roman mit dem Titel Just Revenge (»Anwalt der Gerechtigkeit«). Die Hauptfigur des Romans, ein Professor an einer amerikanischen Universität, hat im Alter von 18 Jahren mit angesehen, wie seine gesamte Familie in Litauen erschossen wurde. Jahrzehnte später begegnet er zufällig dem Mörder im Nachbarort. Wie Demjanjuk ist dieser alt und krank. Der Professor erkennt, dass die einzige Möglichkeit, wirkliche Gerechtigkeit zu erzielen, darin bestünde, den Mörder genau das erleben zu lassen, was er, der Professor, mit 18 Jahren erlebte: mit anzusehen, wie seine Familie ermordet wird. Daraufhin entwirft er ein Szenario, das er die »Maimonidische Lösung« nennt: Er entführt den Massenmörder und führt ihm Videos vor, in denen die Ermordung seiner Kinder und Enkel gezeigt wird. Weil der Professor nicht in der Lage ist, die unschuldigen Nachkommen schuldiger Eltern tatsächlich zu er-
morden, inszeniert er diese Morde mit Videotechnik. Der Massenmörder hält sie jedoch für echt und stirbt schließlich in dem Glauben, all seine Nachkommen seien aus Rache für seine Taten ebenfalls ermordet worden. Diese Geschichte ist rein fiktiv, aber Gerechtigkeit für etwas so Grauenvolles wie den Holocaust gibt es eben nur in der Fiktion.
Ich habe an dem ersten Prozess gegen John Demjanjuk in Jerusalem teilgenommen. Ich sah ihn aus nächster Nähe, begegnete seinen Familienangehörigen. Ich bin absolut und vollkommen überzeugt, dass er der Mittäterschaft am Holocaust schuldig ist. Ich selbst würde John Demjanjuk nicht vor Gericht vertreten, da seine Verteidigung auf Lügen beruht. Demjanjuk ging es nie um Gerechtigkeit. Ihm ging es immer nur um Zeitgewinn, Vernebelung und Verwirrung. Es ist für einen Anwalt nicht angemessen, seine Verteidigung auf Lügen aufzubauen.
Es gibt aber auch noch einen verstörenden Aspekt in dem verständlichen Bemühen Deutschlands, einen ukrainischen Holocaust-Mittäter vor Gericht zu stellen und zu verurteilen. Denn Deutschland hat nicht genug getan, um die deutschen Haupttäter zu verfolgen. Viele der zentralen Figuren sind entweder freigesprochen oder nach relativ kurzen Haftzeiten entlassen worden. Die meisten wurden gar nicht vor Gericht gestellt. Heute wimmelt es von Romanen und Filmen, die suggerieren, dass die Holocaust-Verbrecher einfach nur dumm waren, wenn nicht gar analphabetische Idioten. Das ist nicht zuletzt eine Folge von Hannah Arendts törichter Behauptung, die Täter seien »banal« gewesen. Nichts könnte unwahrer sein.
zweifel Man hat ein leichtes Spiel, wenn die Schuld am Holocaust Leuten wie John Demjanjuk in die Schuhe geschoben wird – ignoranten Ukrainern, die bereitwillig Juden umbrachten, weil ihre Kirchenführer ihnen jahrhundertelang Judenhass gepredigt hatten. Aber die wirklichen Verbrecher wurden nie vor ein Gericht ge-
stellt. Allenfalls – nach über 60 Jahren – vor das Gericht der Historiker. Vielleicht können die so etwas wie Gerechtigkeit schaffen. Ich habe da aber meine Zweifel, ob so etwas wie postume historische Gerechtigkeit erlangt werden kann, da zu viele Beweise mit den Opfern zu Grabe getragen wurden. Und die Welt ist heute zu sehr damit beschäftigt, neue Verbrechen zu begehen, als dass sie Zeit hätte, sich um das größte Verbrechen der Vergangenheit zu kümmern.