von Daniela Breitbart
Der Teufel steckt im Detail. »Sehen Sie den Äskulapstab? Solche Spuren gibt es hier überall«, sagt Rainer Grieger und zeigt auf das schmiedeeiserne Balkongeländer des zweistöckigen, langgestreckten Gebäudes. Es ist das ehemalige Krankenrevier des SS-Truppenlagers in Oranienburg, auf dessen Gelände die Brandenburger Fachhochschule der Polizei ihren Campus errichtet hat. Früher wurde hier medizinisches Personal für die SS ausgebildet. Heute nutzen Hochschulleitung und Verwaltung das Gebäude. Auch Präsident Grieger hat hier sein Büro. Wie lebt und arbeitet es sich an einem solchen Ort? Grieger zögert einen Augenblick. »Manche haben schon ein mulmiges Gefühl«, sagt er dann. »Aber wir begreifen unsere Präsenz als Chance – die Themen Grundrechte und Demokratie bekommen in diesem Umfeld eine ganz besondere Dimension.«
In den kasernenartigen Gebäuden, die seit 2006 Hörsäle oder Seminarräume beherbergen, waren früher Kompanien der SS-Totenkopfverbände angesiedelt – mit Mannschaftsunterkünften, Pferdeställen und Garagen. Davon ist heute nichts mehr zu spüren. In den scheinbar endlosen, weißgetünchten Gängen riecht es nach frischer Farbe und neu verlegten Böden. Nur die Informationstafeln an den Wänden erinnern an die dunklen Kapitel der Geschichte. Trotz des makellosen Fassadenanstrichs wirkt das Gelände unwirtlich. Doch »die Studenten nehmen den Ort gut an«, sagt Grieger. »Sie zeigen verstärkt Interesse an der Geschichte, befassen sich mit polizeilichen Biografien, wollen verstehen, wie aus ganz normalen Männern Mörder werden konnten.«
Eine solche Sensibilität wirkt irgendwie beruhigend, ist doch die Polizei nach der »Personenschützer-Affäre« um den TV-Moderator Michel Friedman und den antisemitischen Äußerungen an der Berliner Polizeischule ins Kreuzfeuer der Kritik geraten. Mangelnde Geschichtskenntnis wird man den Brandenburger Ordnungshütern jedenfalls nicht vorwerfen können. Zwar wird das Fach Polizeigeschichte erst im nächsten Jahr auf den Stundenplan gesetzt, wenn das Diplom- in ein Bachelorstudium überführt wird. Verpflichtend ist und bleibt aber ein dreitägiges Seminar in der Gedenkstätte Sachsenhausen. Die liegt in unmittelbarer Nachbarschaft der Hochschule. Nur eine kleine schmale Straße trennt sie von dem ehemaligen Konzentrationslager.
Am zweiten Tag des Seminars sitzen 20 junge Männer und Frauen in Dreier- und Vierergruppen vor ihren Laptops, diskutieren und blättern konzentriert in Stapeln von Bildern und Dokumenten, die ungeordnet vor ihnen liegen. Aus dem Stimmengewirr tauchen immer wieder Worte wie »KZ« und »Rassismus« auf. So entstehen Kurzvorträge, zum Beipiel über das Selbstbild von SS und Polizei, Zwangsprostitution oder eine Häftlingsbiografie. »Das ist besser als Frontalunterricht«, sagt Christl Wickert und rückt energisch ihre dunkel geränderte Brille zurecht. Die Pädagogin arbeitet bei der Gedenkstätte und leitet die Seminare für die jungen Polizisten. Sie will, dass die Studierenden Eigeninitiative zeigen, Fragen stellen – und auch Vorurteile äußern. »Oft gelingt es mir, Dinge richtigzustellen. Das ist ein schöner Erfolg.«
Kaum einer der Studierenden bleibt von den Eindrücken unberührt. »Viele sagen mir am zweiten oder dritten Tag, sie hätten schlecht geschlafen«, erzählt Wickert. Volker Harms, Student im ersten Semester, nickt. »Es ist ein besonderes Gefühl, an einem so historischen Ort ausge- bildet zu werden«, sagt der 34-Jährige. »Wenn man mit der Uniform übers Gelände geht, starren einen die Leute an. Das steckt man nicht einfach so weg.«
Auch aktuelle Themen kommen während des Seminars zur Sprache. »Eine Studentin erklärte, sie schütze lieber rechte als linke Demonstrationen, weil sie disziplinierter ablaufen. Das fand ich durchaus verständlich«, sagt Wickert. Manchmal begegnet sie Desinteresse oder der Behauptung »wir wissen schon alles«. »Die kann ich schnell entkräften«, sagt sie und lächelt. »Aber wenn ich ein Gespräch mit einem Zeitzeugen vorschlage, sehe ich in mindestens zehn leuchtende Augenpaare.«
Dass die Studenten lernen, aus der Geschichte Schlussfolgerungen für ihre eigene Arbeit heute zu ziehen, wünscht sich auch Rainer Grieger. »Es geht nicht um das Einpauken von Detailwissen, sondern um die Vermittlung von Werten«, betont der ehemalige Polizist. Konkret bedeutet das: Verantwortung zu übernehmen und sich nicht auf Befehle »von oben« zu berufen – besonders, wenn es darum geht, in Rechte anderer einzugreifen. »Und das muss man als Polizist häufig«, sagt Grieger. »Da brauchen wir handlungssichere und verantwortungsbewusste Beamte.«