von
Katharina Schmidt-Hirschfelder
Als Salomon Berlinger am Sonntagabend Stockholms Große Synagoge verlässt, atmet er tief durch. Vor dem ehemaligen Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde der Stadt liegt der Yachthafen, gegenüber strömen die Menschen aus dem Königlichen Dramatischen Theater. Die Synagoge hinter ihm bleibt hell erleuchtet, so wie viele andere europäische Synagogen in dieser Nacht (vgl. Jüdische Allgemeine vom 6. No-
vember). Gerade ist die Gedenkveranstaltung zum 70. Jahrestag der »Reichskristallnacht« zu Ende gegangen.
Berlingers Spaziergang ist der letzte Programmpunkt an diesem Erinnerungsabend, zu dem das »Schwedische Komitee gegen Antisemitismus« und die jüdische Gemeinde aufgerufen haben. Eine Menschentraube hat sich um den 83-Jährigen gebildet. Zwar strömen weniger Menschen aus der Synagoge als aus dem Theater gegenüber, aber die meisten schließen sich ihm an.
Es ist der Höhepunkt des Abends, denn Berlinger erzählt die Geschichte einer Rettung, eines Wunders. Der alte Mann lädt die Besucher mit einem aufmunternden Lächeln ein, ihn auf dem Weg in die orthodoxe Synagoge Adat Jeshurun zu begleiten, die nur wenige Hundert Meter von der Großen Synagoge entfernt im Gebäude der jüdischen Hillelschule untergebracht ist.
Adat Jeshurun ist eine von zwei orthodoxen Synagogen Stockholms. Sie verdanke ihr Überleben, so Berlinger, »dem Fingerzeig Gottes, dem Zufall und dem Mut«. Und einer Freundschaft, fügt er hinzu, während er bedächtig die Nybrogatan hinaufschreitet.
Vor 70 Jahren stand Adat Jeshurun in Hamburg. Sie gehörte zum Verein »Kelilat Jofi« und war bekannt als die »Synagoge in der Heinrich-Barth-Straße«. In jener Novembernacht 1938 hatte der brandschatzende Mob sie einfach übersehen. Denn sie lag in der zweiten Etage eines gewöhnlichen Mietshauses und war von außen nicht als Synagoge erkennbar.
Hamburgs damaliger Oberrabbiner Joseph Carlebach, Berlingers Großonkel mütterlicherseits, schrieb daraufhin seinem alten Freund Hans Lehmann in Stockholm. Dieser war ein wohlhabender Geschäftsmann und hatte Hamburg in weiser Voraussicht bereits Anfang der 30er-Jahre verlassen, um nach Schweden zu emigrieren. »Sie können die gesamte Synagoge haben«, schrieb Carlebach verzweifelt, »wenn Sie nur den Transport bezahlen.«
Nachdem Lehmann ohne Bedenken mit »Ja« geantwortet hatte, beantragte Carlebach eine Exportlizenz für »Holz und Hausrat«. »Die Nazis hatten kein Interesse an altem Schrott«, sagt Berlinger, während sich die Zuhörer immer dichter um ihn scharen, um ja kein Wort zu verpassen. »Also haben sie die Holzkisten verschiffen lassen.«
Am Kai des Stockholmer Industriehafens, wo heute die großen Kreuzfahrtschiffe nach Helsinki vor Anker liegen, wunderten sich an einem kühlen Frühlingsmorgen im Jahre 1939 die Spaziergänger über achtlos hingeworfene Holzkisten. Ihr Inhalt – Gebetsbänke, Bücher, ein Toraschrank – war quer über den Hafen verstreut. Weder der einstmals prächtige Toraschrein noch die kunstvoll geschnitzten Bänke hatten die Reise unbe- schadet überstanden. Risse, fehlende Stützen, eingeritzte Hakenkreuze – Hamburger Hafenarbeiter hatten die versäumte Pogromnacht auf ihre Art nachgeholt.
Es ist spät geworden. Salomon Berlinger und seine Begleiter sind in der zweiten Etage der Hillelschule angekommen. Einige betreten zum ersten Mal in ihrem Leben eine Synagoge. Ehrfürchtig berühren die Besucher die gemalten zartgrünen Jugendstil-Blätter, die sich an den Außenseiten der Bänke emporranken. Berlinger steigt auf die Bima und schiebt vorsichtig den blauen Samtvorhang zur Seite. »Der Toraschrank ist originalgetreu restauriert. Keine Spur mehr von einem Hakenkreuz«, sagt er leise und lächelt.
Der Unternehmer Hans Lehmann hatte sein Versprechen gehalten und auf eigene Kosten die besten Restauratoren des Stockholmer Nationalmuseums beauftragt, den ursprünglichen Zustand des Hamburger Synagogeninventars wiederherzustellen. Im Andenken an die einst blühenden Gemeinden Deutschlands nannte er die gerettete Synagoge Adat Jeshurun. Auch in Anlehnung an die eigene Familiengeschichte. Denn Lehmanns berühmter Vorfahre Behrend Lehmann, der »Hofjude« des sächsischen Kurfürsten August der Starke, hatte im 18. Jahrhundert in Halberstadt eine gleichnamige Synagoge gegründet. Sie wurde in der Reichspogromnacht 1938 vollständig zerstört.
Während die Redner der Gedenkveranstaltung in der Großen Synagoge an das Schicksal von Adat Jeshurun erinnerten, fiel auf, dass sich unter ihnen kein einziger schwedischer Politiker befand. Zwar war jeder Platz in der Synagoge besetzt, doch blieb das beklemmende Gefühl, unter sich zu sein. In den schwedischen Medien war der 70. Jahrestag der Pogromnacht nur eine Randnotiz – mit trägem Blick in Richtung Deutschland.
Für deutlich mehr Interesse hingegen sorgte am Sonntagabend eine Parallelveranstaltung der rechtspopulistischen Partei Sverigedemokraterna (»Schwedendemokraten«). Beflügelt von der Aussicht, nach der Wahl 2010 erstmals in den schwedischen Reichstag einzuziehen, will sich ausgerechnet diese Partei mit gewiefter Rhetorik an die Spitze des schwedischen Kampfes gegen Antisemitismus stellen. Die ausländerfeindliche Partei hielt am Sonntag in der mittelschwedischen Regionalhauptstadt Borås eine öffentlichkeitswirksame Gedenkveranstaltung ab. Redner der Partei nutzten den 70. Jahrestag der Pogromnacht, um auf den heute in Schweden stark ausgeprägten Antisemitismus unter Linken und Muslimen hinzuweisen.
Über den Antisemitismus in muslimischen Kreisen zu sprechen, ist nach wie vor ein Tabu in Schweden, mit dem sich die Sverigedemokraterna im rechten bürgerlichen Lager zu profilieren versuchen. Salomon Berlinger winkt angesichts dieser Tendenz angewidert ab. Für ihn, dessen Eltern in den 30er-Jahren aus Deutschland nach Schweden flohen, ist dies eine Perversion der Geschichte.