von Martin Gehlen
Sein Opfer war gerade beim Einkaufen. »Jude, hier die Botschaft des Islam für dich«, rief ein Mann plötzlich aus, legte seine Kalaschnikow an und streckte den 39-jährigen Mousa Yaish al-Nahari vor den Augen der entsetzten Menschen auf dem Markt von Raydah mit fünf Kugeln nieder. Hier und im Nachbarstädtchen Amran, rund 70 Kilometer nördlich von Jemens Hauptstadt Sana’a, leben die meisten der rund 500 Juden des Landes. Nachdem die örtliche Polizei den Täter, einen früheren MiG-29-Piloten, überwältigt hatte, begann der sich für seine Bluttat zu brüsten. »Diese Juden müssen Muslime werden«, erklärte der 40-jährige Abdul al-Aziz al-Abadi den Ermittlern. Er habe die Tat begangen, um »näher zu Allah zu kommen«.
Am Dienstag hat in Sana’a der Prozess gegen den Ex-Offizier, der offenbar schwer geistig gestört ist, begonnen. Vor vier Jahren wurde er aus der jemenitischen Luftwaffe entlassen »wegen extremer Ansichten und schlechten Verhaltens anderen gegenüber«. Vor zwei Jahren dann tötete er seine Frau. Deren Familie akzeptierte als Sühne eine finanzielle Entschädigung, und Al-Abadi blieb wegen geistiger Unzurechnungsfähigkeit auf freiem Fuß – bis er sich jetzt sein nächstes Opfer suchte.
Der ermordete Mousa Yaish al-Nahari, Vater von fünf Töchtern und vier Söhnen, leitete in Raydah eine Toraschule. Seine Mutter und vier Schwestern leben in Israel. Mousa Yaish selbst studierte sechs Jahre Tora und Talmud. Er habe die Möglichkeit gehabt, nach Israel oder in die Vereinigten Staaten überzusiedeln, berichten seine Verwandten. Doch er entschloss sich, in den Jemen zurückzukehren und dort zu bleiben.
Auch wenn der Mord wahrscheinlich die Tat eines Geistesgestörten ist, wirft er gleichzeitig ein Licht auf zunehmende antisemitische Gewalt im Jemen. »In den letzten Monaten waren wir immer wieder Angriffen und Drohungen ausgesetzt«, beklagt der Bruder des Getöteten, Rabbiner Yousuf Yaish bin Yahya. »Sie durchsuchen uns, wenn wir nach Hause kommen oder weggehen. Manchmal bewerfen sie unsere Häuser mit Steinen, schlagen uns oder bedrohen unsere Frauen mit Waffen« – Schikanen, die nach dem Mord noch zugenommen haben.
Die Täter seien »Leute von hier, aber auch Leibwächter einiger mächtiger Staatsbeamter«, erklärt der Rabbiner. Und obwohl man die Übergriffe immer wieder an Behörden und Stammesführer gemeldet habe, sei nie etwas unternommen worden.
Der Bürgermeister von Raydah macht religiöse Extremisten für die wachsenden Spannungen verantwortlich. Eine solche Tat habe es seit Jahrzehnten nicht in der Stadt gegeben, sagt er. Einer der lokalen Clanchefs klagt, man habe stets in Frieden und guter Nachbarschaft gelebt, »bis sich eine radikale salafistische Gruppe in der Kommune breitmachte und begann, ihre extremen Ideen zu verbreiten«.
Jüdisches Leben existiert im Jemen seit mehr als 3.000 Jahren. Zwischen Juni 1949 und September 1950 wurden in einer Geheimaktion unter dem Decknamen »Operation fliegender Teppich« etwa 50.000 Menschen nach Israel ausgeflogen. Heute leben nach offiziellen Angaben 15.000 jemenitische Juden in Großbritannien und Kanada, 12.000 in den USA und 54.000 in Israel. Aus allen diesen Ländern stammen auch die Verwandten des Opfers, die bereits vergangene Woche in den Jemen gereist sind. Sie müssen das Urteil gegen den mutmaßlichen Mörder ihres Angehörigen abwarten. Erst dann dürfen sie den Toten beerdigen.
In Israel wächst derweil die Sorge um die Zukunft der Juden in dem bitterarmen 22-Millionen-Staat an der Südspitze der arabischen Halbinsel. In einem Brief an Ministerpräsident Ehud Olmert schrieb der Präsident der Jewish Agency, Zeev Bielski, die Regierung solle zusammen mit der internationalen Gemeinschaft Druck auf Sana’a ausüben, gegen den wachsenden Antisemitismus und die Angriffe auf die Gemeinden vorzugehen.
Der Bruder des Ermordeten erklärte, wenn der Staat dazu nicht in der Lage sei, sollte er seinen jüdischen Bürgern ihre Häuser abkaufen und »uns das Geld auszahlen, damit wir das Land verlassen können«. Die Botschaft ist offenbar angekommen. So ordnete die jemenitische Justiz gegen den Todesschützen ein Eilverfahren an. Bereits zwölf Tage nach der Tat hat nun der Mordprozess begonnen, der für den Angeklagten mit der Todesstrafe enden könnte. Das Innenministerium in Sana’a ordnete im Zusammenhang mit der Bluttat an, acht weitere Personen festzunehmen. Und Jemens Präsident Ali Abdullah Saleh bot den Juden aus Raydah an, in die Hauptstadt Sana’a umzusiedeln, wo sie sicher seien. Seine Mitarbeiter wies er an, entsprechende Grundstücke zu suchen.