Welche Persönlichkeitswand-lung! Als Gott Mosche zum Fürsprecher der hebräischen Sklaven vor dem Pharao machen wollte, lehnte Mosche dies zunächst noch mit dem Einwand ab, er sei »kein Mann der Rede« (2. Buch Moses 4,10). Fast am Ende der Wüstenwanderung scheint sein einstiges Problem der »schweren Zunge« mehr als überwunden. Man kann sich keinen redegewandteren Religionsstifter vorstellen als Mosche. Im Buch Dewarim spricht nicht mehr Gott; hier spricht nur noch Mosche. In drei langen Reden fasst er die Ereignisse der vergangenen 40 Jahre zusammen, erinnert an wichtige Momente seit dem Auszug aus Ägypten und wiederholt einen Großteil der Gesetze.
selbstbewusstsein Auch die Rabbinen staunen. Wie vermochte es Mosche, diese rhetorische Fähigkeit zu erwerben, fragt der Midrasch Dewarim Raba. Rabbi Levi meint, der Schlüssel liege in der Tora. »Siehe, bevor Mosche noch zur Tora gelangte, sagte er: ›Ich bin kein Mann der Rede‹, als er aber zur Tora gelangt war, wurde seine Zunge geheilt, und sie fing an, Reden (Dewarim) zu reden. Woher lässt sich das beweisen? Aus dem, was wir hier lesen: ›Dies sind die Reden, welche Mose redete.‹«
Nicht erst in der Konfrontation mit Menschen – zunächst dem Pharao, dann dem widerspenstigen Volk – und nicht erst im Laufe seiner Erfahrungen mit dem Führen von Menschen wuchs Mosches Selbstbewusstsein. Er gewann es vielmehr im Dialog mit Gott. Das fortwährende Lernen ließ ihn zur Tora gelangen.
Der Begriff »Tora« hat in der jüdischen Geistesgeschichte mehrere Bedeutungen. Mit Artikel – also »die Tora« – meint das Wort den Pentateuch. Daneben wird es jedoch auch ohne Artikel gebraucht. »Tora« entsteht bereits in dem Moment, in dem Juden »die Tora« auf ihre Lebenssituation hin auslegen und weiter entfalten.
Genau diese Tora ohne Artikel scheint Mosche den Israeliten nahezulegen. Als erster Schüler Gottes macht er seinem Volk vor, wie man zu einer eigenen Sicht der Tora gelangt. Wer das Buch Dewarim genau liest, bemerkt schnell, dass in vielen Details sowohl Mosches Bericht als auch seine Wiederholung der Gesetze inhaltlich von den vorangegangenen vier Büchern abweichen.
Die Tora, die Mosche heilte, seine Zunge löste und ihm seine eigene Sprache gab, enthielt demnach von vornherein auch Mosches persönliche Sicht auf die Tora. Er gewann seine Gewissheit, indem er sich aus dem Machtgefüge, das die Beziehungen zwischen Menschen bestimmt, herauslöste und sich an die einzig wahre Macht, eben Gott, band. Er lernte, von Gott aus gesehen zu sprechen – jedoch in der Sprache der Menschen, die auch seine eigene war.
führungsqualitäten Die Bindung an Gott gab ihm eine unendlich größere Selbstsicherheit, als er sie je allein aus sich selbst hätte schöpfen können. Im Wissen dieser von anderen Menschen unabhängigen Kraft sagt Mosche zu den Richtern den Satz: »Fürchtet euch nicht vor einem Menschen« (5. Buch Moses 1,17). Für jeden großen Revolutionär ist das Leben eine Aneinanderreihung enttäuschter Hoffnungen. Wie niedergeschlagen muss Mosche gewesen sein, als er erkannte, dass die Oberhäupter seines Volkes noch lange nicht so weit waren wie er. Mosche erinnert sich an die Zeit kurz nach dem Auszug, als es darum ging, das Volk zu organisieren. Sein Schwiegervater Jitro riet ihm damals, »tapfere, gottesfürchtige, wahrheitsdienende und unbestechliche Männer« über das Volk zu stellen (2. Buch Moses 18,21). Das sind nicht nur ehrfurchteinflößende Eigenschaften, die Distanz schaffen, sondern sie stehen zugleich im Zeichen des Gehorsams.
lernfähigkeit Aber Mosche zitiert in Dewarim nicht seinen Schwiegervater. Er nennt andere Kriterien, nach denen das Volk seine Oberhäupter auswählen solle: »weise, einsichtige und bekannte Männer« (5. Buch Moses 1,13) – Männer also, die wie Mosche lernfähig sind. Die Kandidaten, die sich fanden, besaßen jedoch nur zwei der von Mosche erhofften Eigenschaften: »So nahm ich denn die Häupter eurer Stämme, weise und bekannte Männer« (5. Buch Moses 1,15) – jedoch keine »einsichtigen«.
Raschi (1040-1105) erörtert an dieser Stelle den Unterschied zwischen »weise« (chacham) und »einsichtig« (nawon). »Weisheit« sei eine passive, lediglich beobachtende Form von Klugheit, sie führe noch zu keiner Aktivität. Demgegenüber begnüge sich die »Einsicht« nicht mit klugen Beobachtungen. Sie dringt in die Sache ein und baut sie von innen heraus, mitunter neu auf. Zugleich geht sie über den jeweiligen Gegenstand hinaus. Einsichtig seien Menschen, die »eine Sache aus einer anderen Sache zu schließen verstehen«. Es geht also darum, aus der Tora weitere Tora hervorzubringen, von ihr auf neue und anders gelagerte Fragen zu schließen. Erst die »Einsicht« aktiviere den Geist zur Tat.
Offensichtlich fehlte der ersten Generation von verantwortlichen Oberhäuptern noch die Fähigkeit, aktiv selbst zur Tora zu gelangen. Das vermochten jedoch später die Rabbinen. Sie schufen die Kultur der sich fortsetzenden Tora, die immer größere und neue Lebensbereiche einbezog. Voraussetzung hierfür ist, dass jeder Einzelne im Dialog mit Gott zur Tora gelangt.
Mochte Mosche damals vom Kleinmut der israelitischen Oberhäupter enttäuscht gewesen sein, sah er doch voraus, dass sein Volk eines Tages eine Nation von Rabbinern werden würde. So jedenfalls deutet der Midrasch den Satz: »Ich kann allein euch nicht tragen, denn der Ewige, euer Gott, hat euch vermehrt; seht, ihr seid heute so zahlreich wie die Sterne des Himmels« (5. Buch Moses 1, 9-10).
vermächtnis Der Wortstamm des hebräischen Verbs »vermehren« enthält die beiden Buchstaben Resch und Bet, die auch das Wort »Raw« (Rabbiner) bilden. Hierauf anspielend sagt der Midrasch: »Weil euch der Ewige, euer Gott, über eure Richter groß gemacht hat. ›Der Ewige, euer Gott, hat euch gemehrt.‹ Er sprach nämlich zu ihnen: Heute seid ihr wie die Sterne, aber einst werdet ihr viel sein (row). Das heißt, ihr werdet eurem Rabbiner (Raw) gleichen.«
Bis zur Nation, in der alle zu Rabbinern und Rabbinerinnen geworden sind, ist es freilich noch ein langer Weg. All denjenigen, die im täglichen Kampf (noch) Schwierigkeiten haben, sich verbal zu behaupten, gibt Mosche mit seinem Leben ein besonderes Vermächtnis.