von Karen Naundorf
Ist der »Spiegel« schon da?«, ruft Lilly Ungar durch die Buchhandlung. »Sí, Señora Lilly!« Die Antwort kommt aus Richtung Kasse, neben der die Zeitschriftenständer stehen. Ungar nimmt den Telefonhörer wieder in die Hand: »Ja, Sie können ihn abholen.« Ein Dialog, wohl kaum der Rede wert –hätte er nicht in Bogotá stattgefunden, in der Libreria Central, der ältesten Buchhandlung der Hauptstadt Kolumbiens, an deren Hauswand ein Porträt von Literaturnobelpreisträger Gabriel García Márquez gemalt ist. Kein Ort, an dem man damit rechnet, mit Wiener Akzent empfan- gen zu werden und Astrid Lindgrens Michel und die Suppenschüssel und Thomas Mann auf Deutsch im Sortiment zu finden.
Lilly Ungars Schreibtisch steht hinten in der Buchhandlung, zwischen langen Wandregalen. Rechts in Griffweite das Telefon, links eine Schreibmaschine und ein Faxgerät, einen halben Meter entfernt ein gepolsterter Sessel für Besucher. In einer Schublade versteckt liegt das dicke Adressbuch mit allen wichtigen Kontakten in Bogotá. Außerdem ein Schälchen mit Apfelschnitzen, ein anderes mit Karamellbon- bons. »Nehmen Sie eins, und gleich noch eins für später!«, sagt Ungar.
Señora Lilly, das ist Elisabeth Ungar, geborene Bleier, 1939 im Alter von 17 Jahren über die Niederlande aus Wien nach Kolumbien gekommen. Mit mehr als 80 Jahren leitet sie die Libreria Central und die dazugehörige Galerie. Bis zu seinem Tod vor drei Jahren führte sie gemeinsam mit ihrem Mann die Geschäfte. »Da drüben war sein Büro«, sagt Lilly Ungar und zeigt auf eine Tür in der anderen Ecke des Raumes, »wir haben alles so gelassen, wie es war.«
Hans und Lilly Ungar, die beiden und ihre Libreria Central kennt in Bogotá jeder. Sie haben der Buchhandlung ihr Gesicht gegeben, junge kolumbianische Künstler unterstützt, etwa Botero, öffneten die erste Kunstgalerie Bogotás. Hans war Mitgründer der Universidad de los Andes, schrieb Artikel in den Tageszeitungen, moderierte im Radio. In der Libreria Central trafen sich Intellektuelle, Künstler, Politiker, viele davon Exilanten. Das Geschäft wurde zum Diskutier-Salon. »Das ist heute auch noch so«, sagt Lilly Ungar. »Die Leute kommen Samstag morgens, es bilden sich kleine Gruppen, mache stehen einfach zwischen den Regalen, andere setzen sich.« Ein guter Ort, um Ex-Präsidenten, Schriftsteller und Botschafter zu treffen. Ungar trägt eine weiß-blaue Strickjacke, eine matt glänzende Perlenkette, sie bewegt sich geschickt zwischen den Buchregalen, setzt sich an ihren Schreibtisch. In dessen Inneren hebt sie auch die Stern-Bestseller-Listen auf, die sie verfolgen lassen, was die Leute in Deutschland zurzeit lesen. Und ihre Korrespondenz mit Enkel Antonio, einem Nachwuchsschriftsteller, der momentan aus Israel für die Wochenzeitung La Semana schreibt.
Ihren Mann lernte Lilly Ungar bei einem Ausflug mit Freunden kennen. Hans war wie sie ein Exil-Österreicher, beide waren vom Krieg gezeichnet, ein Teil ihrer Familie in Auschwitz umgebracht worden. Ein gebildeter junger Mann, der zwar nie Geld für Bücher hatte, aber stundenlang in der Libreria Central schmökerte, die ihr Besitzer, Pablo Wolf, 1926 gegründet hatte. Als Wolf starb, wollte seine Witwe die Buchhandlung sofort verkaufen – es sei denn, Hans Ungar würde sie leiten. Zuerst war Ungar angestellt, später übernahm er das Geschäft. »Er war verrückt nach Büchern«, sagt seine Witwe. Ungars Privatbibliothek umfasst 24.000 Bücher, »alle Stück für Stück zusammengesucht, bei Auktionen, Trödelhändlern, überall auf der Welt gekauft«. Irgendwann waren die beiden Räume im Erdgeschoss mit Büchern vollgestopft, sodass die Zimmer der beiden Kinder im ersten Stock Teil der Bibliothek wurden.
»Als wir nach Kolumbien kamen, konnten wir den Überfluss im Land nicht fassen: Vom Schiff aus sahen wir eine Kuh, die ins Wasser gefallen war, die Krokodile fraßen sie, und wir hatten doch gerade den Hunger in Europa erlebt.«
Sie wohne sehr gerne in Kolumbien, sagt Ungar. »Ein wunderschönes Land, den schlechten Ruf verdient es nicht.« Vor allem die Menschen haben es ihr angetan: »Sie sind so herzlich hier. Und was das Land angeht – es gibt jedes Klima, das man sich wünscht.« Natürlich gebe es Guerilla, Drogen und bewaffnete Konflikte, aber unter Präsident Uribe sei es ein bisschen ruhiger geworden, zumindest könnten die Leute nun wieder ins Umland fahren. Das Kolumbienbild im Ausland sei von den schlechten Nachrichten geprägt, das spüre sie oft bei Besuchern aus Europa: »Sie wurden vorher gewarnt und dann sind sie ganz entzückt.« So verwunderlich ist das nicht, führt Kolumbien – seit mehr als 40 Jahren von bewaffneten Konflikten geprägt – doch die Statistiken an, was Entführungen oder Ermordungen von Gewerkschaftern angeht.
Die Libreria ist ein guter Ort, um mehr über Kolumbien zu erfahren. Am besten, um das Land auf die Weise kennenzulernen, die Hans Ungar immer empfahl: »Wahrscheinlich ist die Literatur der beste Weg, um dieses einzigartige, widersprüchliche, großartige Land zu verstehen.«