Das 2. Buch Moses hat drei Teile: die ägyptische Sklaverei und der Auszug aus Ägypten, die Übergabe der Gesetze und die Schilderung vom Bau der Stiftshütte. Aus dramaturgischer Sicht ist das letzte Drittel vielleicht das am wenigsten interessante. Im Film Die Zehn Gebote taucht es erst gar nicht auf. Dennoch enthält dieser dritte Abschnitt des Buches etwas ganz Besonderes und entscheidend Wichtiges, das den vorangegangenen Teilen fehlt.
Es steht im Zusammenhang mit dem Stiftszelt, das gemäß der von Gott gegebenen präzisen Schilderung gebaut werden muss. In diesem Sinne ist es die Erfüllung eines göttlichen Gebotes. Daran ist nichts Außergewöhnliches. Doch, so heißt es in der Tora, darf das Stiftszelt von Anfang bis Ende nur aus dem errichtet werden, was freiwillig dafür hergegeben wird. All das ist in dem wichtigen Wort zusammengefasst, das einer gesamten Parascha ihren Namen gibt: Truma.
Eine Truma ist ein Geschenk. Doch nicht alle Geschenke sind Trumot. Zum Beispiel: Ein Geschenk, das ich einem Freund oder einem Familienmitglied ma-
che, ist es nicht. Nur ein Geschenk, das der Allgemeinheit gemacht wird, ohne dafür eine Belohnung zu erwarten, ist eine Truma. Das Wort leitet sich von dem Verb le’harim ab, was »emporheben« bedeutet. Eine Truma ist etwas, das emporgehoben und als Geschenk dargereicht wird. Wären uns nur die ersten beiden Drittel des 2. Buches Moses gegeben worden, hätten wir die enorme Wichtigkeit einer Truma nie kennengelernt.
Ja, wir hätten den Wert der Freiheit kennengelernt. Ja, wir hätten erfahren, wie wichtig es ist, das jüdische Gesetz zu befolgen. Doch wir hätten nie erfahren, wie wichtig es ist, dass die Menschen freiwillig vortreten und ihre Zeit und ihr Eigentum unentgeltlich in den Dienst einer Gemeinschaft, einer Nation, eines Volkes stellen.
Der Anfang der Bibel handelt von Individuen im Garten Eden. Thema der Patriarchenerzählungen ist, wie sich die Familie entfaltet, aus der wir stammen; schließlich steht das Volk oder die Nation Israel im Mittelpunkt.
Gemeinwohl Unserer Bestimmung als Menschen werden wir als Individuen nie hundertprozentig gerecht, auch nicht als Mitglieder einer Familie. Es ist unsere Identität als Teil eines Volkes, die eine tiefere Dimension der menschlichen Existenz offenbart. Schon die Sprache der Tora macht dies klar. Denn dort ist die Rede von »jedem, den sein Sinn dazu bewegt«. »Ihn dazu bewegt« – was zu tun? Ein Haus für sich selbst zu bauen? Ein Geburtstagsgeschenk für ein Familienmitglied zu kaufen? Nein. Einen Beitrag zum Gemeinwohl zu leisten. Die Sorge um sich selbst ist sicherlich wichtig, letztendlich aber im Wortsinne egozentrisch. Für die eigene Familie zu sorgen, mag lobenswert sein, doch letztendlich ist es ebenso das Resultat egozentrischen Denkens und egozentrischer Fürsorge. Wer hingegen einen Beitrag zum Gemeinwohl leistet, steht am Rand und nicht im Mittelpunkt.
Im Bild des israelitischen Lagers, wie es am Beginn des 4. Buches Moses beschrieben wird, tritt uns dieser Sachverhalt deutlich vor Augen: Alle Stämme haben ihren genauen Platz; alle befinden sich im wahrs-ten Sinn des Wortes an der Peripherie des Lagers. Und im Zentrum ist das Stiftszelt, erbaut aus den freiwilligen Spenden der großzügigen Herzen der Israeliten.
selbstlos Wesentlich für die Idee des Truma ist, dass die Spenden überreicht wurden, ohne Anerkennung oder Belohnung zu erwarten oder darauf zu hoffen. So wie Antigonos Ish Socho in den Pirkej Awot, den Sprüchen der Väter, lehrt: »Seid nicht wie Sklaven, die ihrem Herrn um einer Belohnung willen dienen; seid wie Sklaven, die ihrem Herrn bedingungslos dienen.«
Ehre und Anerkennung werden in der jüdischen Gemeinde häufig als Währung gebraucht. Zu oft geht es am Ende nur noch um die Frage: »Was fällt für mich ab, wenn ich mich für diese Schule oder Synagoge, für diese Wohltätigkeitsorganisation engagiere?«, »Was könnte nach mir benannt werden?«, statt um die Frage: »Was für einen einzigartigen Beitrag kann ich leisten?«
Vor etwa hundert Jahren, 1899, fasste Chaim Nachman Bialik, der große Nationaldichter des jüdischen Volkes, den Geist selbstlosen Einsatzes für die Ideale der Nation in einem Gedicht mit dem Titel Auf die Freiwilligen zusammen: »Zum Wohle des Volkes: Womit? / Frage nicht: mit allem, was da ist. Mit wem? / Mache dir keine Sorgen: alle werden sich freiwillig melden.« Das war kaum drei Jahre nach dem ersten Zionistischen Kongress im Jahr 1896, als idealistische jüdische junge Leute in Russland und anderswo freiwillig nach Palästina gingen, um das Land wieder in Besitz zu nehmen und es aufzubauen. Ein ergreifender Fall von Menschen, die bereit waren, sich freiwillig zum Dienst für die Nation zu melden.
gemeinschaft Das ist der Geist, den die jüdische Gemeinschaft heute braucht. Es gibt religiöse Traditionen, bei denen die Fähigkeit des Individuums im Mittelpunkt steht, spirituell mit dem Göttlichen zu kommunizieren. Die jüdische Tradition hingegen verlangt von uns, sich der Gemeinschaft anzuschließen, um am Gottesdienst teilzuhaben. Es gibt religiöse Traditionen, die akzeptieren die Tatsache, dass einige Menschen satt und andere hungrig sind, dass einige in Sicherheit leben und andere kein Obdach haben, dass es einigen gut geht und anderen elend. Das Judentum lehrt: Jeder von uns ist für den anderen verantwortlich. Wenn du leidest, mindert es mich herab. Es gibt keine gesetzliche Verpflichtung, die besagt, dass ich von meinem Eigentum etwas an die Gemeinschaft abgeben muss: Doch wenn ich es nicht tue, fehlt etwas in mir. Das gilt in Zeiten des Überflusses und umso mehr in wirtschaftlich schwierigen Zeiten.
Das kommt nicht automatisch. Es muss gelernt werden. Es musste auch von den Is-
raeliten gelernt werden. Erinnern wir uns an den Vorfall, der im zweiten Kapitel des Exodus geschildert wird: Moses sieht zwei kämpfende Israeliten. Er versucht, sie zu trennen, und sie wenden sich gegen ihn: »Wer hat dich zum Aufseher und Schiedsrichter über uns bestellt?«, sagt einer der beiden. »Meinst du, du könntest mich um-
bringen, wie du den Ägypter umgebracht hast?« (2,14) Von Gemeinsinn zeugt das nicht gerade! Eine alte chassidische Redensart formuliert es so: Moses musste nicht nur die Israeliten aus dem Herzen Ägyptens reißen; er musste auch Ägypten aus dem Herzen der Israeliten reißen.
Wie lehrt man das? Wie lehrt man Menschen, auf freiwilliger Basis etwas zum Gemeinwohl beizutragen? Sich für die Ge-
meinschaft zu engagieren? Ich kann mir keinen besseren Weg vorstellen als das persönliche Beispiel. Die Ironie eines selbstlosen Engagements besteht darin, dass sein Wert herabgemindert wird, wenn man die Aufmerksamkeit anderer darauf lenkt. Besser ist es, einfach zu handeln und darauf zu bauen, dass man damit anderen ein Vorbild ist.
ehrenamt Der Geist der freiwilligen Hilfe ist auch in unserer heutigen Welt lebendig. Interessanterweise entdeckte ich das Gedicht Bialiks Auf die Freiwilligen im Internet, auf einer Website, auf der ganz unten steht: »Diese Seite ist Teil des Ben-Yehudah-Projekts, das dank seiner ehrenamtlichen Unterstützer existiert.« Dieses Projekt stellt die Werke hebräischer Autoren wie Bialik, der vor über 70 Jahren starb und dessen Werk daher nicht länger urheberrechtlich geschützt ist, ins Netz, um es für alle Interessierten zugänglich zu machen.
Aber das ist nur ein Beispiel. Es gibt so viel zu tun und so viele Gelegenheiten für ein ehrenamtliches Engagement. Historisch gesehen, hat Judesein stets mehr bedeutet, als sich um die eigenen spirituellen Bedürfnisse – oder andere persönliche Bedürfnisse – zu sorgen. Eine Synagoge war immer mehr als ein Geselligkeitsverein, und das Judentum mehr als ein Hobby oder Spiel.
Wir sind Teil eines Volkes, das lange vor uns da war und das, hoffen wir, lange nach uns leben wird. Und es ist mehr als eine große glückliche – und zuweilen unglückliche – Familie. Es ist ein Volk – eine Gruppe Männer, Frauen und Kinder, vereint in der Verfolgung gemeinsamer Ziele, vereint durch gemeinsame Werte. Unsere religiöse Zivilisation zielt auf die Erlösung der ganzen Welt. Wir sind nicht hier, uns ewig fortzupflanzen um der ewigen Fortpflanzung willen, sondern um unsere Pflichten als Juden zu erfüllen.
Ich glaube, die Lehre der Parascha Truma besteht darin, dass ein Jude nicht nur das Richtige tun soll, er soll es auch wollen. Sie besteht darin, das Richtige zu tun, nicht weil »Gutes tun heißt, etwas für sich zu tun« – nicht deshalb, weil es einem Vorteile verschafft. Sondern weil das Richtige tun, ohne dafür Belohnung oder Anerkennung zu erwarten, schlicht und einfach das Richtige ist.
Wenn wir so verfahren, wenn wir eine Truma darbringen, lehrte Levi Yitzhak von Berditschew, ist es zwangsläufig nicht nur die Gabe, ist es nicht nur die Gemeinde, die emporgehoben wird, sondern wir selbst. Wir heben unseren Besitz empor – und da-
mit uns selbst.