von Hanno Loewy
Alvin Rosenfeld hat recht (vgl. Jüd. Allgemeine vom 2. August). Jedenfalls mit vielem, was er sagt. Tun wir ihm und uns den Gefallen, dies gleich am Anfang einzuräumen. Natürlich gibt es jüdischen Selbsthass. Diese Erkenntnis ist wahrlich nicht neu. Wie soll das auch anders sein in einer Welt, in der wenige Juden von unzähligen »Judenbildern« förmlich umstellt sind, in der auf jeden Juden ein paar Dutzend Fantasien über ihn kommen? Da sollen solche übermächtigen Bilder von uns auf uns nicht abfärben?
Natürlich, auch da hat Rosenfeld recht, sind heute gerade »progressive Juden« solchem Druck ausgesetzt, in Zeiten, in denen die judenfeindlichen Ressentiments im Westen besonders unter selbst ernannten Linken grassieren. Und ja, es stimmt, dass all jene, die ihre judenfeindlichen Ressentiments als Kritik an Israel verkaufen möchten, sich gern jüdischer Kronzeugen bedienen. Aber warum sollen Juden nicht das normale Spektrum des politischen Unsinns repräsentieren dürfen? Man kann ja auch fragen, ob es wirklich »jüdischen Interessen« dient, sich von einer politischen und religiösen Rechten instrumentalisieren zu lassen, die sich aus der Mottenkiste des christlichen Philojudaismus bedient, um »die Juden« gegen den Islam, gegen Minarette in Köln oder innenpolitische Gegner auszuspielen.
Was also will Rosenfeld eigentlich wirklich? Ich habe den Verdacht, dass er ganz nebenbei versucht, die wahren »jüdischen Interessen« und die richtige »jüdische Identität« zu definieren. Genau da fängt die Debatte an, interessant zu werden.
Kann es nicht auch ganz andere, ausgesprochen jüdische Gründe geben, sich – Zitat Rosenfeld – »schwer zu tun mit dem jüdischen Staat«, Gründe, die nichts mit latentem Selbsthass zu tun haben? Darf man als Jude auf das Leben der Diaspora nicht stolz sein, und genervt, wenn es entwertet und verachtet wird? Könnte man nicht den zionistischen Kult des »Muskeljudentums« und der militärischen Stärke als umgekehrten Selbsthass empfinden, als Kniefall vor einem Antisemitismus, dessen Bild man – indem man ihm »ums Verrecken« zu entfliehen versucht, doch nur bestätigt?
Sich mit dem Judentum als staatlich verfasster Nation zu identifizieren, ist keineswegs eine Selbstverständlichkeit, sondern eine vor allem historisch verständliche Haltung nach der Katastrophe der Schoa. Die blauäugige Assimilation in Europa hatte sich als schreckliche Sackgasse erwiesen. Eine Sackgasse war sie nicht zuletzt deshalb, weil auch das assimilatorische Judentum die Diaspora verachtete und sich in den europäischen Nationen verstecken wollte, die sich als die wahren Vertreter des Fortschritt und des Heils der Welt sahen. Die »deutsch-jüdische Symbiose« war nur der extremste Ausdruck einer solchen Hoffnung. Mit dem bekannten ernüchternden Ergebnis.
Kann es sein, dass die heutige jüdische Realität, geprägt von den beiden großen Gemeinschaften in den USA und in Israel, diese Geschichte fortschreibt? Sind die Ideologien vom jüdischen Staat und vom amerikanischen Schmelztiegel womöglich nicht nur jüdische Identitäten, sondern auch jüdische Selbstverleugnungen? Kann es sein, dass sich diese beiden jüdischen Existenzweisen darum gerade so gut ergänzen, weil sie erlauben, das Judentum und den Schatz seiner Geschichte auf die eine oder andere Weise zu vergessen? Lässt es sich nicht gerade darum in New Jersey gut amerikanisch, also »liberal« leben, weil man das Jüdischsein nach Israel delegiert hat, am besten an orthodoxe Siedler in der Westbank. Und lässt es sich nicht in Tel Aviv gut säkular und israelisch leben, weil man das Jüdischsein an die neurotischen New Yorker delegiert hat, die Woody Allens und Isaac Bashevis Singers der Diaspora? Vor dem, was es tatsächlich bedeutet, Jude zu sein, nämlich jüdische Erfahrungen in der Diaspora zu machen, einer Diaspora, deren Zentrum vor allem aus Fantasien und Sehnsüchten besteht, kann man sich in den USA und in Israel auf diese Weise ganz gut davonstehlen.
Ob diese beste zweier Welten für immer so bleiben wird, ist allerdings eine andere Frage. So sehr das schmerzt, es einzugestehen: Weder darauf, dass Israel in ein paar hundert Jahren ein jüdischer (und nicht nur ein israelischer) Staat sein wird, können wir uns verlassen, noch darauf, dass das protestantische Amerika den Traum der Pilgerväter, ein neues Jerusalem zu gründen, auf ewig in philojudaistischer Umarmung und bedingungsloser Unterstützung Israels verfolgen wird. Beide, Israel und die USA, sind keine endgültigen Antworten auf jüdische Fragen.
Was bleibt ist die Diaspora. So paradox es klingen mag: Es ist die Existenz des Staates Israels, die zum ersten Mal in der Geschichte Juden in aller Welt die Möglichkeit gegeben hat, die Diaspora freiwillig zu wählen, sie als jüdische Erfahrung und Existenzform zu bejahen. Und das tun nicht wenige. Darunter auch viele Israelis, die mit ihrem israelischen Pass in der Tasche das Leben in Los Angeles, Berlin oder Paris genießen. Statistiken, mit denen immer einmal wieder das Ende der Diaspora ausgerufen wird, sind politische Ideologie. Soll damit herumhantieren, wer mag.
Die Behauptung, Israel sei nicht nur ein jüdisch geprägtes Land, sondern die Erfüllung jüdischer Existenz schlechthin, empfinden immer mehr Menschen in der Diaspora als Ärgernis. Diese These gefährdet auch die Sicherheit Israels. Ein Staat, der nicht in erster Linie ein Staat seiner eigenen Bürger ist, sondern ein ideologisches Projekt, lebt dauerhaft in Unfrieden mit seinen Nachbarn und seinen eigenen Bürgern. Das Existenzrecht des Staates Israel zu verteidigen – und die Rechte seiner jüdischen Bevölkerungsmehrheit (von den Rechten der nichtjüdischen Minderheiten wollen wir hier einmal gar nicht reden) – ist deswegen kein Widerspruch zu einer selbstbewussten Diaspora, auch wenn dieses Paradox beiden schwer im Magen liegen mag, den Zionisten wie den Antizionisten. Zwischen diesen beiden jüdischen Schützengräben kann es leider ziemlich ungemütlich sein. Aber auf Dauer ist anderswo für ein selbstbewusstes und nicht in Selbsthass erstickendes Judentum kein Platz.