Chanukkia

Sejdes Licht

von Beni Frenkel

Es ist Montagmorgen, zehn vor acht. Die Mutter hält mit dem Auto vor der Schule und stellt den Motor ab. David, ihr zwölfjähriger Sohn, löst den Gurt und öffnet die Tür. »Gib mir noch einen Kuss«, bittet sie und hält die Wange hin. David schaut zum Schulhof, ob dort jemand steht und gibt seiner Mutter einen flüchtigen Kuss.
»Oh, Gott«, denkt er, »wenn das bloß keiner gesehen hat!« Mutterküsse sind in seiner Klasse ziemlich uncool. Man wird deswegen nicht gleich verprügelt, aber die höhnischen Blicke der Kameraden können einen ziemlich fertigmachen.
Der Montag ist sehr stressig in der Schule. Sieben Stunden Unterricht, und dann am Ende noch diese schreckliche Frau Grömpel-Hahnhart, Geschichtslehrerin seit 30 Jahren. Zurzeit werden die Weltreligionen durchgenommen. Frau Grömpel-Hahnhart hat die Angewohnheit, dass sie jeden zweiten Satz mit »Ich denke mal« beginnt. So auch letzten Montag: »Ich denke mal, dass es Sinn macht, wenn David uns nächste Woche etwas über seine Religion erzählt. Er ist nämlich mosaischen Glaubens, das heißt, er ist jüdisch.« Und als die Pausenglocke läutet, wendet sie sich kurz David zu: »Ich denke mal, du solltest ein jüdisches Symbol mitbringen.« Wie er sie hasste, diese Frau Grömpel-Hahnhart!
Am Abend zu Hause versammelt sich die Familie vor dem Tisch. Fünf Chanukkiot brennen. Der Leuchter vom Vater: ein wertvoller aus Silber, und Mutters Leuchter, siebzig Zentimeter hoch und mit Schmucksteinen verziert. Davids Schwester hat den hässlichsten auf dem Planeten Erde: einen kitschigen mit Minnie-Maus-Figuren! Und sein kleiner Bruder einen aus Amerika – die neun Leuchter als Comic-Figuren: Superman, Hulk, Spiderman ...
Der kleinste und unscheinbarste Leuchter ist der von David. Er ist so klein, dass man die Kerzen unten anspitzen muss, um sie in die Halter zu stecken. Davids Chanukkia ist dunkelbraun, fast schwarz. Weil nur kleine Kerzen reinpassen, brennen sie auch höchstens fünfzehn Minuten. Vaters Leuchter zwei Stunden, die Minnie-Mäuse eine Stunde und die Comic-Figuren immerhin vierzig Minuten.
David ist es jedesmal peinlich, seine Chanukkia anzuzünden. Am letzten Montag war er ziemlich schlecht drauf. Frau Grömpel-Hahnhart und die Mini-Chanukkia – die können einen Zwölfjährigen echt runterziehen. Ist ja auch wahr! Warum lässt man ihn nicht einfach in Ruhe? Und dann kommt noch der Vater, der von Grömpel-Hahnharts Idee etwas mitbekommen hat: »Toller Einfall«, sagt er, »nimm doch deine Chanukkia mit. Kannst dann etwas vom Fest erzählen.« Bitte? Mit diesem Leuchterchen soll er vor die Klasse treten? Daphna, seine Banknachbarin (»nicht Freundin!«), wird ihn schön doof angucken.
David will die fünfzehn Minuten nicht abwarten, die seine blöde Chanukkia für die Kerzen braucht. Er rennt nach oben in sein Zimmer und hängt das Schild »Nicht reinkommen!« an die Tür.
Er liegt im Bett. Eine halbe Stunde, eine Stunde, zwei Stunden. Dann klopft es an der Tür. Die Mutter kommt herein. »Du, David«, sagt sie und setzt sich auf sein Bett: »Ich will dir etwas Wichtiges über deine Chanukkia sagen«. »Dass sie nur einen Euro gekostet hat?«, fragt David.
»Nein, die kleine Chanukkia ist 120 Jahre alt. Sie gehörte David Operländer, meinem Sejde, deinem Urgroßvater. Von ihm hast du deinen Vornamen und die schönen braunen Augen.« David schaut seine Mutter an. »Dein Urgroßvater lebte in Galizien, einem Gebiet in der heutigen Ukraine. Er war Sattelmacher und der Enkel eines großen Rabbiners. Als die Nazis sein Dorf überfielen, es war der letzte Chanukka-Abend, da musste er mit seiner Familie fliehen.
Mit seiner Frau, seinen drei Söhnen und vier Töchtern suchte er Schutz in den Wäldern. Nach einer Woche beschloss er, die Familie zu teilen. Er wollte, dass sich wenigstens ein paar seiner Kinder retten konnten. Schmuel, mein Vater, war damals 13 Jahre alt. Er schaffte es nach Georgien, wo er sich einer Flüchtlingsgruppe anschloss. Er hat seine Eltern nie wieder gesehen. Es hieß, sie wären in Babij Jar umgekommen.«
David richtet sich im Bett auf. »Die kleine Chanukkia, die unten auf dem Tisch steht, war Schmuels einziges Erinnerungsstück an seinen Vater«, sagt seine Mutter. »Vielleicht willst du sie doch in die Schule mitnehmen?«
David schweigt. Er hat es nicht so mit Gefühlen. Am nächsten Tag geht er in den Unterricht und steht in der Geschichtsstunde vor seiner Klasse. Er erzählt, was er von seiner Mutter gehört hat. Niemand feixt während des Vortrags, keiner macht blöde Witze.
Am Abend dann leuchten neun Kerzen in seiner kleinen dunkelbraunen Chanukkia. Die große Wärme lässt die Dochte noch schneller runterbrennen als sonst. Doch David scheint es, als ob seine Lichter am längsten strahlen.

Kultur

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