1968

Sein Kampf

von Ingo Way

Will da etwa einer den Nationalsozialismus relativieren? Der Buchtitel Unser Kampf, bezogen auf die Studentenbewegung um das Jahr 1968, lässt darauf schließen. Denn immerhin waren es doch die 68er, die mit der bundesdeutschen Verdrängung der NS-Zeit Schluss gemacht und sich die Aufarbeitung der deutschen Verbrechen auf ihre Fahnen geschrieben haben – und nebenbei der Bundesrepublik zur längst fälligen Liberalisierung und Demokratisierung verhalfen. So jedenfalls die gängige Meinung, die durch die in den vergangenen Jahren verschiedentlich geäußerte Kritik an Auswüchsen der 68er-Bewegung kaum ins Wanken gebracht worden ist.
Götz Aly, Historiker und ausgewiesener NS-Experte – 1968 selbst ein radikaler Linker –, bestreitet diese Deutung vehement. Seine These: Die Studentenbewegung war ein »Spätausläufer des Totalitarismus«, die linken Studenten verachteten Pluralismus und Demokratie und waren darin ihren Nazi-Eltern ähnlicher, als es ihnen lieb war; sie waren der Gewalt zugetan, fröhnten einer deutsch-romantischen Gemeinschaftsideologie und interessierten sich kein bisschen für die Aufarbeitung der NS-Zeit. »Faschismus« war ihnen eine bloße Chiffre für gegenwärtige Zustände, die ihnen nicht behagten, und hatte nichts mit dem spezifisch deutschen Menschheitsverbrechen der Schoa zu tun. Folgerichtig glitten die Protagonisten in Antiamerikanismus und Antizionismus ab. Die Abwendung von Israel und den Juden war laut Aly Ausdruck der Schuldabwehr – der bundesdeutsche Staat hatte nämlich mit den Auschwitz- und weiteren NS-Prozessen seit Anfang der 60er-Jahre der deutschen Gesellschaft ihre Verbrechen vor Augen geführt. Die Scham über das Verhalten ihrer Eltern hätten die linken Studenten nicht ertragen und die deutsche Schuld in abstrakten marxistischen Kategorien aufgelöst und nebenbei – im Falle Israels – die Opfer zu Tätern umgedeutet.
Einige der bisher erschienenen Rezensionen zeigen in ihrer Aufgeregtheit, dass Aly zumindest einen Nerv getroffen hat. Auffällig sind die vielen Ad-hominem-Argumente: Aly sei ein »Renegat«, dessen »Furor« auch nicht besser sei als das, was er kritisiere; er müsse sich zwanghaft an seiner eigenen Geschichte abarbeiten und sei außerdem bloß neidisch, dass er es nicht zur C4-Professur gebracht habe. Diese für eine sachliche Debatte, gelinde gesagt, irrelevanten Einwürfe sind symptomatisch für ein Debattenklima, in dem in Bezug auf 68 augenscheinlich der Grundsatz gilt, dass die Gesamtbilanz unterm Strich gefälligst positiv zu sein habe.
Selbstverständlich hat Alys Buch Schwächen. Sein problematischster Punkt – der es seinen Kritikern besonders leicht macht – ist die Parallelisierung der 68er-Studentenrevolte mit der NS-Studentenschaft von 1933. Zwar findet Aly hier in der Tat beängstigende Parallelen. In Gestus und Wortwahl lesen sich manche NS-Flugschriften wie linke Flugblätter der 70er-, 80er- und der 90er-Jahre. Beide Bewegungen richteten sich gegen die »Spießer« (Baldur von Schirach) und das »kapitalistische Bildungsmonopol« (Fritz Hippler), beide beklagten sich über angebliche Polizeischikanen und richteten eine Rote Hilfe (68) beziehungsweise eine Vaterländische Gefangenenhilfe (33) ein. Auch Wohngemeinschaften gab es 1933 schon, und sie wurden auch genau mit diesem Wort bezeichnet. Ob diese unbestreitbaren Ähnlichkeiten jedoch bloß zufällige Oberflächenphänomene sind oder eine strukturelle Verwandtschaft beweisen, dies zu klären, bleibt weiterhin Aufgabe der Zeitgeschichtsforschung. Alys zweifellos unterhaltsamer polemischer Essay kann allenfalls eine, zunächst steil klingende, These aufstellen.
Und doch hat Aly sich diese Parallele nicht ausgedacht. Es waren jüdische Remigranten, Verfolgte des NS-Regimes, die den totalitären Charakter der Studentenbewegung erkannten und auf die Nähe zu den Nazis explizit hingewiesen haben. Zu diesen gehörten Max Horkheimer und Theodor W. Adorno – ironischerweise Ikonen der Linken. Es sind aber vor allem die Politologen Richard Löwenthal und Ernst Fraenkel, auf die Aly sich bezieht. Sein Buch ist streckenweise beinahe eine Huldigung an diese beiden jüdischen Sozialdemokraten und Wissenschaftler, die an der Freien Universität Berlin lehrten. Statt sich an diesen zu orientieren – beide hatten bereits in der Emigration Forschungen zum Nationalsozialismus angestellt, die sie in der Bundesrepublik fortführten –, liefen die radikalen FU-Studenten dem linksgewendeten Altfaschisten Johannes Agnoli hinterher, den Fraenkel als »demagogischen Clown« bezeichnete. Fraenkel bot sich auch an, den Faschismusvorwurf gegen linke Studenten in einem Gerichtsprozess als Gutachter zu bestätigen. Löwenthal warnte unterdessen in Diskussionen mit Dutschke davor, dass der Versuch, die perfekte utopische Gesellschaft zu schaffen, zwangsläufig in einer Diktatur enden muss. Auch auf die Mao-Begeisterung der Studenten reagierten Fraenkel und Löwenthal mit Fassungslosigkeit, und nicht nur sie. Beiden wäre es nicht in den Sinn gekommen, in solchen Warnungen eine Verharmlosung des Holocaust zu sehen, dem sie knapp entgangen waren. Wieso sollte das der Fall sein, wenn man die 68er-Bewegung rückblickend ähnlich beurteilt? Dieser Vorwurf scheint eher der Ehrenrettung derjenigen zu dienen, die dabei waren und ihren Spaß hatten.
Im Streit um die von den Grünen in Berlin-Kreuzberg gewünschte Umbenennung eines Teils der Axel-Springer-Straße in Rudi-Dutschke-Straße macht Götz Aly am Ende des Buches dann einen wahrhaft salomonischen Vorschlag: Man solle sie doch am besten in Richard-Löwenthal-Promenade umtaufen.

götz aly: unser kampf. 1968 – ein irritierter blick zurück
Fischer, Frankfurt/M. 2008, 256 S., 19,90 €

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