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Schriften

»Sei ein Mensch«

von Jonathan Rosenblum

In diesem Jahr haben wir den 200. Ge-
burtstag von Rabbiner Samson Raphael Hirsch gefeiert, dessen Vision das deutsche orthodoxe Judentum vom frühen 19. Jahrhundert bis zu seiner Zerstörung durch die Nazis prägte.
Als Rabbiner Hirsch mit 27 Jahren als Verfasser des Buches Neunzehn Briefe über Judenthum zum ersten Mal an die Öffentlichkeit trat, befand sich das deutsche orthodoxe Judentum auf dem Rückzug. So ließen sich zum Beispiel in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts 90 Prozent der Berliner Juden taufen. Neunzehn Briefe über Judenthum war das erste Werk, in dem das Zeitalter der Moderne aus der Perspektive der Tora betrachtet wird. Dieses Buch und sein Nachfolger, Horeb, bewog tausende Juden, die sich vom traditionellen Judentum so gut wie völlig abgewendet hatten, mitten in der Abkehrbewegung innezuhalten.
Ein zeitgenössischer Rabbiner schrieb: »Jeder, der Neunzehn Briefe über Judenthum liest, wird feststellen, dass er bislang nicht so viel über das Judentum wusste, wie er jetzt nach der Lektüre weiß, und er wird im wahrsten Sinn des Wortes ein neuer Mensch.« Die Schriften des Rabbi Hirsch waren der erste Anstoß für Sa-
rah Schenirer, die Begründerin der Bais-Yaakov-Schulen für Frauen, und die Laienführer der ursprünglichen Agudath-Israel-Bewegung stammten fast alle aus den Reihen seiner Anhänger.
Aufgrund seiner Offenheit säkularen Schriften gegenüber wird Rabbi Hirsch zuweilen als Begründer des modernen or-
thodoxen Judentums genannt. Das ist falsch. Im Kontext des deutschen orthodoxen Judentums seiner Zeit galt er als Eiferer. Sein Insistieren auf der völligen Trennung von den staatlich anerkannten Ge-
meindekörpern, da sie in seinen Augen den Makel einer institutionalisierten Häresie trugen, spaltete die orthodoxe Gemeinde von Frankfurt am Main, eine Gemeinde, die er so gut wie im Alleingang aufge-
baut hatte. Jede Seite seines umfangreichen Œuvres ist durchdrungen von seiner tiefen Furcht vor dem Himmel.
In Rabbiner Hirsch den Architekten des Tora-Judentums für die moderne Welt zu sehen, trifft die Sache eher. Hirsch schrieb für die moderne Welt, in der die schützende Abgeschiedenheit des Ghettos keine Option mehr war, für eine Welt, in der jeder Jude gleichzeitig auch in einer größeren nichtjüdischen Gesellschaft lebt.
Obwohl er die Gefahren der Emanzipation erkannte und wiederholt betonte, dass die Teilhabe innerhalb einer größeren Gesellschaft niemals auch nur die gerinste Abweichung von den Verpflichtungen als Jude rechtfertigen könne, sah Rabbi Samson Raphael Hirsch in der Emanzipation die Möglichkeit, ein erfüllteres jüdisches Leben zu verwirklichen.
Das Eingeschränktsein des jüdischen Lebens im Ghetto, so Rabbi Hirsch, be-
raubte das jüdische Denken der ihm zugedachten Vitalität, nämlich der praktischen Anwendung auf konkrete Lebenssituationen. »Das Ziel des Studiums«, beklagte er, »war nicht das praktische Leben, lag nicht darin, die Welt und unsere Aufgabe in ihr zu verstehen.«
Statt sich der größeren Gesellschaft ausschließlich defensiv zu nähern, betrachtete Hirsch sie mit Optimismus. Er sah in den historischen Gegebenheiten eines je-
den Zeitalters den Rohstoff, dem die Ideale der Tora aufgeprägt werden müssen, soweit die größere Gesellschaft Gelegenheit dazu bietet. Seine Schriften sind er-
füllt von einer unerschütterlichen Zuversicht, dass die Tora die Macht hat, jedes Zeitalter in der Geschichte zu erheben und zu verwandeln.
Das Land Israel bot für die Hirsch’sche Tradition keinen fruchtbaren Boden. Die orthodoxen Flüchtlinge aus Deutschland – spätestens ihre Kinder – strebten beinahe alle zur Welt der Mainstream-Jeschiwa. In ihr wurde oft darauf hingewiesen, dass die vergangenen 150 Jahre des deutschen orthodoxen Judentums nicht mehr als zwei oder drei Talmudisten oder halachische Autoritäten ersten Ranges hervorgebracht haben – verglichen mit Hunderten hervorragenden Gelehrten in Ost-
europa. Deswegen konnte die Hirsch’sche Tradition niemals die dominierende Tradition innerhalb der israelischen Charedim-Gesellschaft werden.
Dennoch haben die Schriften von Rabbi Hirsch immer noch viel zu bieten, sowohl der charedischen Welt als auch der jüdischen Gesellschaft als solcher. In der Tat ist es schwierig, einen anderen jüdischen Denker des 19. Jahrhunderts zu finden, der auf eine so erstaunlich zeitgenössische Weise zu uns spricht. Über 100 Jahre nach seinem Tod erscheinen regelmäßig weitere Neuübersetzungen seines Werks, insbesondere seines Kommentars zum Chumasch. Während immer mehr Charedim an der umgebenden Gesellschaft teilhaben und nach irgendeiner Art fortgeschrittener säkularer Erziehung Ausschau halten, werden die Schriften des Rabbi Hirsch zur Konfrontation von Moderne und Tora neue Leser gewinnen. Rabbi Hirsch schilderte das religiöse Le-
ben, wie es in seiner Zeit vorherrschend war, wie folgt: Die äußeren Formen werden aufrechterhalten, ohne dass ein lebendiger Geist sie erfüllte. Seine Lebensaufgabe bestand darin, dieses »unverstandene Judentum« zu erneuern. Für Hirsch war die Tora »göttliche Anthropologie« – eine Geschichte des Menschen aus der Perspektive des Göttlichen. Die Mitzwot sollten nicht als willkürliche Regeln, die bloße Befolgung fordern, verstanden werden, sondern als Werkzeuge, durch die G’tt den idealen Menschen zu gestalten sucht, dessen Selbstvollkommenheit das Ziel der Schöpfung ist.
In seinem Kommentar zum Chumasch legte Rabbi Hirsch dar, welchen Sinn und welche Lebenslehre jedes Detail der religiösen Vorschriften, einschließlich desjenigen des Gottesdienstes im Tempel, uns einzuschärfen versucht. Selbst jene, denen eine bestimmte Erläuterung nichts sagt, werden, nachdem sie Hirsch gelesen haben, nie wieder daran zweifeln, worin die Relevanz jedes einzelnen Wortes der Tora für das tägliche Leben besteht.
Das Bewusstsein von den Mizwot als Erziehungsmittel, um den idealen Menschen zu gestalten, ist eng mit einem anderen seiner Konzepte verbunden: dem Ge-
bot, mit jeder Handlung, die man ausführt, G’ttes Namen zu heiligen. Eines der Wunder der Gesetzestafeln war, dass sie aus allen Richtungen gleich gut lesbar waren. Und so, lehrte Rabbi Hirsch, muss es bei jedem Juden sein. Aus welcher Richtung er auch immer wahrgenommen wird – ob zu Hause, im Studienhaus oder auf dem Markt –, er muss den Stempel eines von der Tora geprägten Juden tragen.
Ein weiterer Aspekt im Denken von Rabbi Hirsch ist von großer Bedeutung für die israelische jüdische Gesellschaft als Ganzes. Solange das Verständnis für die Frage fehlt, warum das Weiterbestehen des jüdischen Volkes als Kollektiv von universeller Bedeutung ist, werden uns all jene verlassen, die Talent haben und einen Ort, wohin sie gehen können. Tatsächlich lassen die Zahlen zur Abwanderung qualifizierter Kräfte aus Israel keinen Zweifel daran, dass viele diesen Schritt bereits vollzogen haben.
Hirschs Schriften sind die vielleicht vollständigste Darstellung der jüdischen Sendung. »Frieden und Harmonie auf Erden wiederherzustellen … und den Ruhm Gottes auf die Erde zurückzubringen«, schreibt er in seinem Kommentar zum Chumasch, »ist, so steht auf jeder Seite von Gottes Wort geschrieben, das Ergebnis und das Ziel der Tora.« An anderer Stelle beschreibt er die Emanzipation als einen Schritt in Richtung »unseres Ziels, dass jeder Jude und jede Jüdin durch das gelebte Vorbild Priester Gottes und eines wahrhaftigen Menschseins ist«.

Nachdruck mit freundlicher Genehmigung von www.jewishmediaresources.com

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