von Rabbiner Avichai Apel
60 Jahre sind seit der Erklärung der Unabhängigkeit des Staates Israel vergangen. 105 Jahre ist es her, seit der Zionistische Kongress in Basel die Errichtung eines jüdischen Staates in Eretz Israel beschlossen und gleichzeitig den Plan eines Gemeinwesens in Uganda verworfen hat. 200 Jahre sind seit der Zuwanderung der Schüler des Gaon von Wilna nach Eretz Israel vergangen und 231 Jahre seit der Alija der Chassidim des Baal Schem Tow unter Führung von Rabbiner Menachem-Mendl aus Witebsk. Chassidische, litauische, säkulare und religiöse Juden sahen Eretz Israel immer als das Zentrum des jüdischen Volkes. In unserer Einstellung zu Israel sind wir uns alle einig.
Es war kein Zufall, dass das Volk Israel nach dem Auszug aus Ägypten nach Eretz Israel gehen wollte. An vielen Stellen der Tora können wir lesen, dass G’tt dieses Land Abraham, Isaak und Jakob versprochen hatte, als das Land, in dem ihre Nachkommen leben werden. Bereits beim ers-
ten Treffen versprach er Abraham: »Deinem Samen will ich dies Land geben«
(1. Buch Moses 12, 7).
Ende des 19. Jahrhunderts, als die Haskala-Bewegung stärker und die Gleichstellung der Juden in Deutschland deutlicher wurde, verschärfte sich die Frage der Zu-
gehörigkeit und der Verbindung zwischen dem Volk Israel und Eretz Israel durch die Erscheinung der Reformbewegung. Auf ei-
ner Konferenz von 1845 in Frankfurt am
Main wurde darüber diskutiert, ob es Zweifel an unserer Identität geben könne, weil wir als Einwohner Deutschlands eine geteilte Loyalität hätten. Zum einen beten wir dreimal täglich im Schmone-Essre: »Und unsere Augen mögen schauen, wenn du nach Zion zurückkehrst in Erbarmen.« Dieses Gebet, sowie zweifellos auch die zuletzt am Pessachabend gesagte Formel »Nächstes Jahr im wieder erbauten Jerusalem« verstärken das Gefühl eines jeden Juden – seit Beginn des Exils nach der Zerstörung des Zweiten Tempels –, dass wir eines Tages das Exil verlassen werden und nach Jerusalem zurückkehren. Zum anderen streben wir nach Anerkennung als gleichberechtigte Bürger an unseren jeweilen Wohnorten. Wie können wir also als loyale Bürger in unserem Land leben? Es wurde deshalb damals von der Reformbewegung beschlossen, die Sätze, die zur Rückkehr nach Zion aufrufen, aus dem Gebetbuch zu entfernen.
Das Leben des Volkes Israel in Eretz Israel ist keineswegs selbstverständlich. Selbst die anderen Nationen betrachten diese Verbindung zwischen dem Volk Israel und seinem Land als etwas Ungewöhnliches. Nach 2.000 Jahren der Wanderung inmitten unterschiedlicher Völker zeigen wir plötzlich Interesse am Geschehen in Eretz Israel. Seit eh und je versuchten fremde Völker, das Land zu erobern und Juden davon abzuhalten, dort als Volk zu leben. Die Römer, Griechen, Türken, Briten und andere Völker eroberten das Land und vermieden jüdische Besiedlung ihrer Gebiete. Der bedeutendste Kommentator der Tora, Rabbiner Schlomo Itzchaki, der sogenannte Raschi, misst diesem Problem eine große Bedeutung bei. Die Tora beginnt die fünf Bücher Mose mit der Schöpfung der Welt und der Geburt des Volkes Israel, von Abraham bis zum Auszug aus Ägypten. Und das, obwohl die Tora eigentlich als Lehrbuch mit der Beschreibung von Geboten und Gesetzen beginnen sollte. Raschi erklärt: Die Tora hatte einen bestimmten Grund, mit der Schöpfung der Welt zu beginnen. Es mag sein, dass die anderen Völker dem Volk Israel eines Tages vorwerfen werden, dass sie Diebe seien, da Eretz Israel in der Vergangenheit Wohnsitz anderer Völker war.
Die Tora gab daher bereits eine Antwort für das jüdische Volk vor: G’tt hat die Welt geschaffen und konnte entscheiden, ob er Eretz Israel anderen Völkern schenkt. Und Er gab es dem Volk Israel. »Er lässt verkündigen seine gewaltigen Taten seinem Volk, das er ihnen gebe das Erbe der Heiden« (Psalm 111, 6).
Was verbindet uns darüber hinaus mit dem Land? Rabbi Jehuda Halewi vergleicht in seinem Buch HaKuzari die Verbindung zwischen dem Volk Israel und Eretz Israel mit der zwischen dem Weinstock und dem Berg, auf dem er wächst. Der Winzer weiß, dass es nicht genügt, entweder einen hervorragenden Weinstock oder einen hervorragenden Boden zu haben, um die Weintraubenqualität zu verbessern. Nur die Kombination von beiden – dem Pflanzen eines hervorragenden Weinstocks auf hervorragendem Boden – führt zu dem besten Resultat, den besten Trauben und dem besten Wein. Die Metapher: Eretz Israel ist wie der hervorragende Boden, und alle Taten des Volkes Israel sind wie Wein. Es genügt nicht, das Volk Israel oder Eretz Israel allein zu haben, um deren Potenzial zu erreichen. Das geht nur, wenn G’tt beide Elemente verbindet: Wenn er das Volk Israel versammelt und nach Eretz Israel bringt, und nur wenn das Volk Israel in Eretz Israel lebt, kann es seine Möglichkeiten durch Taten, Forschung, Entwicklung und Wissen voll ausschöpfen. Nur dann kann Eretz Israel durch das Wachsen der besten Früchte, die weltweit exportiert werden, durch das Blühen der Wüste, aber insbesondere durch die moralische Entwicklung des Volkes in seiner Heimat sein volles Potenzial erreichen. Deshalb werden durch jede Trennung des Volkes von Eretz Israel die Kräfte geschwächt. Diese Metapher beweist uns, dass die Verbindung zwischen dem Volk Israel und Eretz Israel kein Zufallsprodukt ist, sondern eine bedeutungsvolle untrennbare Verbindung.
Eigentlich hängt alles auch davon ab, wie wir Eretz Israel wahrnehmen. Es ist eben kein Land wie jedes andere. Es handelt sich hier nicht um einen Ort für ein Volk, das einfach nur ein schönes Gebiet besiedeln möchte, um die dort befindlichen Ressourcen zu erschließen. Eretz Israel ist ein ganz besonderer Ort: denn nur dort kann das jüdische Volk auch als solches leben. Als ein Volk, das die Wüste in eine blühende Landschaft verwandelt und die Gebote praktiziert, die nur mit diesem Land verbunden sind; ein Volk, dessen Wohnort das Land G’ttes ist, über das geschrieben steht: »Ein Land, auf dem G’tt seine Augen von Jahresbeginn bis Jahres-ende hat.«
Unsere Rückkehr nach Eretz Israel hat mit den Schülern des Baal Schem Tow begonnen und wurde vor 125 Jahren zu ei-
ner wahren Einwanderungswelle. Die Entwicklung mündete 1948 in die Erklärung der Unabhängigkeit Israels. Ein wahres Wunder. Denn seitdem kann jeder Jude das Gebot der Besiedlung von Eretz Israel erfüllen und unter jüdischer Regierung im jüdischen Staat leben. Gemäß der Anweisung der Tora: »Und euch bringt in das Land, darüber ich habe meine Hand gehoben, dass ich’s gäbe Abraham, Isaak und Jakob; das will ich euch geben zu eigen, ich, der G’tt« (2. Buch Mose 6, 8).