von Sabine Brandes
Statt weißer trug Najot Schuhe in orange. Mit einer Mischung aus Stolz und Trauer zeigen sie und ihr Ehemann Jitzhak Patschenik ihr Hochzeitsalbum. Eine schöne Braut ist zu sehen, ein stolzer Bräutigam daneben. Sie halten einander an den Händen, während sie hinter ihrem Haus am Strand spazierengehen. Um ihre Arme sind orangefarbene Bänder gebunden, die Farbe der Abzugsgegner. Die Hochzeitsgesellschaft feiert mit Sand unter den Füßen und Wind in den Haaren. Es sind romantische Fotos. Für Najot und Jitzhak sind es die Bilder ihrer Liebe und zugleich die Bilder des traurigsten Ereignisses in ihrem Leben.
»Es war die letzte Feier in Gusch Katif«, wissen beide. Wenige Tage vor Israels Abzug heirateten sie in ihrem einstigen Zuhause, der jüdischen Siedlung Newe Dekalim. Als Zeichen, daß sie die Hoffnung nicht verloren haben. »Ja«, sagt Najot und streichelt ihrer acht Monate alten Tochter über den Kopf, »bis zum Schluß haben wir gehofft«. Doch alles Hoffen half nichts. Am 15. August 2005 kam die israelische Armee mit Bulldozern und räumte sämtliche Häuser der 25 Dörfer. Jitzhak ist 25 Jahre alt, seine Ehefrau 24. Als sie gerade ein Jahr alt war, zogen ihre Eltern nach Gusch Katif. »Von der Regierung gelockt«, betont Najot. »Sie kamen als junges Paar und mußten ihre Heimat als Eltern und Großeltern verlassen, das ist so tragisch.« Bis vor kurzem kannte die junge Frau kein anderes Leben als das in dem Siedlungsblock, mit dem Strand hinter dem Haus, wo sie als Kind spielte. Sie erinnert sich an blühende Gärten und Gewächshäuser voller Geranien, an die beschaulichen Straßen und Häuser mit mit roten Ziegeldächern.
Heute existiert nurmehr die Erinnerung daran. Die Häuser, Gärten und Synagogen sind zerstört, Juden leben dort keine mehr. Genau ein Jahr ist vergangen, seit sich Israel aus dem Gasastreifen und der nördlichen Westbank zurückgezogen hat. Ein Gebiet, das der Staat nach dem Sechs-
Tage-Krieg von 1967 annektiert und bewußt besiedelt hatte. Im vergangenen Jahr wurden mehr als 8.000 jüdische Siedler gezwungen, ihre Häuser zu verlassen – einige mit Gewalt. Monate zuvor hatten zahllose religiöse und rechtsgerichtete Gruppen versucht, den Staat von seinem unilateralen Vorhaben abzubringen. Ohne Erfolg. Es gelang auch nicht, in der breiten Masse der Bevölkerung Sympathie für die orangefarbene Bewegung zu gewinnen. Die meisten stimmten dem Plan der Regierung unter Ariel Scharon zu und empfanden wenig Mitleid für die Siedler und ihren Kampf um das Recht, in den palästinensischen Gebieten zu leben.
Den Mangel an Mitgefühl versteht Dror Vanunu nicht. »Wir sind doch alle Brüder«, sagt der Mann, der das vor dem Abzug gegründete »Komitee Gusch Katif« als internationaler Koordinator vertritt. Er fühle jetzt, in den Zeiten des Krieges, mit den Menschen im Norden und wünsche ihnen nur das Beste. In mancher Hinsicht aber sei er auch neidisch. »Als wir alles verloren haben, hat sich niemand von den gängigen Organisationen um uns gekümmert. Sie haben uns mit unserem Leid einfach nicht wahrgenommen, sondern uns zum Teil sogar verachtet. Dabei sollten sie doch für alle Juden da sein. Das ist etwas, das sich tief in mein Herz gebrannt hat.«
Der Jahrestag, ein für die religiöse Siedlerbewegung schmerzhaftes Datum, fällt mitten in einen für Israel existentiellen Krieg und wird deshalb von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. Dennoch trafen sich zum jüdischen Datum Tausende ehemalige Siedler und Sympathisanten, die von der Grenze zum Gasastreifen bis nach Jerusalem marschierten. Mit dabei eine Sefer Tora, die sie extra für diesen Tag geschrieben hatten. »Die Sefer Tora bleibt an der Klagemauer«, erklärt Vanunu, »bis zu dem Tag, an dem wir wieder zurück in unsere Heimat können.« Ob er daran wirklich glaubt? Vanunu schweigt.
Zur politischen Lage indes hat er viel zu sagen. Zwischen dem Gasa-Abzug und dem Krieg im Norden sieht Vanunu eine klare Verbindung. Es sei eine große Dummheit der Regierung gewesen, mit einem unilateralen Schritt Frieden erreichen zu wollen. Für ihn ist die jetzige Krise eine direkte Folge der Geschehnisse des vergangenen Jahres. »Land abzugeben, ist keine Alternative«, macht er klar. Bereits der Rückzug aus dem Libanon vor sechs Jahren sei ein gravierender Fehler gewesen, der es der Hisbollah ermöglicht habe, massiv aufzurüsten und diese endlosen Katjuscha-Salven auf das israelische Kernland abzufeuern.
»Sofort nachdem wir Gusch Katif verlassen mußten, flogen Unmengen von Kassams auf Sderot und die umliegenden Kibbuzim«, erläutert Vanunu. »Das ist ein deutliches Zeichen dafür, daß die Palästinenser keinen Frieden wollen. Was für einen Grund sollten sie haben, Raketen gegen Israel zu schicken, wenn sie mit dem Ergebnis zufrieden wären? Nein, sie wollen immer mehr. Auf ihre Kassams schrieben sie Al-Kuds – Jerusalem. Das sagt ja wohl alles«.
Seiner Meinung nach unternehme die Regierung nichts gegen die radikalen Islamisten. »Diese Regierung beschützt die Juden nicht. Und alle, die an eine Politik der Unterlassung glauben, leben in einer großen Illusion. Doch dies ist der Nahe Osten, und hier kann man nicht in einer Illusion leben. Das wird bitter bestraft.« Was die Zukunft anbelangt, so ist der Aktivist pessimistisch: »Nur wenn es eine völlig andere Regierung gibt, eine, die sich um die Juden kümmert und wahren Glauben hat, wird es anders werden. Denn alles, was wir abgeben, wird gegen uns benutzt werden. Es explodiert direkt vor unseren Füßen.«
Vanunu steht mit seiner Einstellung nicht allein. Fast die gesamte Siedlerbewegung würde seine Worte sicher unterschreiben. Dennoch gab es nicht einen Soldaten aus der Bewegung, der den Dienst im Libanon verweigerte. Im Gegenteil. Die Zahl der politisch rechtsgerichteten religiösen Soldaten, die gefallen sind, ist hoch. Einer von ihnen war Amichai Merhavia. Verbissen kämpfte er seinerzeit mit Worten gegen den Abzug. Ein Brief an den Verteidigungsminister brachte ihm einen vorübergehenden Ausschluß aus der Armee ein. Doch Merhavia schaffte es zurück in seine Golani-Eliteeinheit – und wurde bei der Schlacht in Bint Jbail getötet.
Auch außerhalb der Siedlerbewegung diskutiert man den Erfolg der Aktion. Jossi Beilin, Knessetmitglied und Chef der Linkspartei Meretz, sagte der Tageszeitung Haaretz: »Viele, die gegen den Abzug gewettert haben, hatten recht. Leute aus der linken und rechten Ecke glaubten, daß ein unilateraler Abzug lediglich die Extremisten stärken würde, die weder Dialog noch Frieden wollten. Und genau das ist geschehen.« Dov Weissglas, früherer Berater von Ariel Sharon, ist hingegen vom Erfolg der Aktion überzeugt: »Der Abzug hat alle Ziele erreicht. Er bewahrte die Leben der Siedler und der Soldaten, die sie beschützen mußten. Außerdem weckte er Hoffnungen und macht wirtschaftliches Wachstum möglich.«
Wie auch immer die Politik bewertet wird, Vanunu weiß, daß seine ehemaligen Nachbarn verbittert sind: »Die Leute stecken einfach fest. Es geht nicht weiter. Zwar haben wir statt der 85 Prozent Arbeitslosigkeit vor einem Jahr jetzt ›nur‹ noch 50 Prozent, aber lediglich, weil wir selbst die Sache in die Hand genommen haben. »Früher waren wir erfolgreiche Farmer und Geschäftsleute, heute arbeiten die meisten in Jobs mit Mindestlohn, nur um irgendetwas zu tun.« Die Regierung helfe zwar, aber es gehe so schleppend, daß man eigentlich gar nicht von Hilfe sprechen könne. Vanunu selbst hat mit seiner Familie über fünf Monate im Hotel gewohnt. Eine Zeit, die er nicht vergessen kann. Es sei ein Dahinvegetieren gewesen ohne zu wissen, wo und wie er mit Frau und Kindern unterkommen wird.
Regierungsstellen sprechen von zwei Milliarden Dollar, Militäraktionen und Kompensationen eingeschlossen, die der Gasaabzug den Staat kosten wird. Pro Familie sollen zwischen 170.000 und 250.000 Euro Kompensation gezahlt werden, um neue Grundstücke zu erwerben und Häuser zu bauen. »Momentan aber geben die Menschen das Geld für das alltägliche Leben aus, weil sie kein Einkommen haben«, erklärt Vanunu. »Es ist eine Tragödie. In 25 Jahren haben wir Gusch Katif zu einem blühenden Paradies gemacht und jetzt drängen wir uns in klitzekleinen Häusern aus Spanplatten und wissen nicht, was wir tun sollen.«
98 Prozent aller Menschen leben noch immer in den temporären Häusern, den sogenannten Caravillas. Hunderte von ihnen stehen in Nitzanim in der Nähe von Aschkelon. »Sie sind so klein, daß die Menschen fast verrückt werden«, sagt Vanunu aus eigener Erfahrung. Niemand habe Privat-sphäre, Teenager müßten sich ein Zimmer mit drei oder vier Geschwistern teilen. Die meisten religiösen Familien sind groß, sechs bis acht Kinder sind keine Seltenheit. Najot erinnert sich: »Es hat uns immer Spaß gemacht, einander zu besuchen und mit vielen Leuten zusammenzusitzen. Jetzt geht das aber nicht mehr. Meine Großmutter kann uns nur noch in Etappen einladen, weil sie keinen Platz hat. Das bricht ihr das Herz.«
Nur 150 von 700 Leuten, die ihr eigenes Geschäft in Gusch Katif hatten, haben sich außerhalb des Gasastreifens selbständig gemacht. Und lediglich 15 Prozent der Farmer sind in der Landwirtschaft tätig. »Von einem Tag auf den anderen ist der Alltag weggefallen«, sagt Najot und erzählt von ihrer Mutter, die einen privaten Kindergarten betrieb. »Immer war Leben im Haus, die Kinder rannten überall herum und gehörten einfach dazu. Jetzt ist meine Mutter ohne Arbeit und sitzt den ganzen Tag zu Hause. »Wir alle schauen auf ein Gestern, das es nicht mehr gibt.«
Die Stimmung in den Caravilla-Städten ist schlecht, die Frustration hoch. »Die Regierung von damals hat ein Verbrechen begangen, und für dieses Verbrechen muß sie zahlen.« Selbstmordversuche, Herzinfarkte, zerbrochene Familien und Teenager, die vorzeitig die Schule verlassen, sind nur einige der Folgen. Allein zwölf Selbstmordversuche von Jugendlichen zählte der Knessetausschuß, der sich mit dem Abzug befaßt, von August 2005 bis heute. Hinzu kämen vermehrt Eßstörungen und ein stark erhöhter Alkohol- und Drogenmißbrauch. Große Probleme gebe es auch im Bereich der schulischen Integration, so der Bericht des Ausschusses. 30 Prozent der Schüler hätten die Schule vorzeitig verlassen oder die Abschlußprüfungen nicht geschafft. Vanunu ist sicher, daß die Wiedergutmachung viele Jahre dauern wird. »Sie hatten uns gesagt, daß es eine Lösung für uns alle geben würde, doch das war eine Lüge. Eine große Lüge.«
»Es stimmt, wir haben kein wirkliches Zuhause mehr, unsere Gemeinden und Familien sind auseinandergerissen worden«, sagt Najot. Sie zog mit ihrem Mann in eine kleine Wohnung in Ramat Hasharon, eine säkulare Kleinstadt im Norden von Tel Aviv. Warum gerade hierher? »Weil wir hier Arbeit gefunden haben.« Najot arbeitet in einer Apotheke, ihr Mann als Schuldnerberater. »Was geschehen ist, war sehr, sehr schmerzhaft«, sagt die 24jährige. »Es gibt viel Wut, aber keinen wirklichen Haß.« Ihr Mann pflichtet ihr bei. »Wir haben immer zum Volk Israel gehört – und das wollen wir nach wie vor, so weh es auch tut.«