Sehnsucht, Leim und Heimat
Wuppertal:
Alte Synagoge zeigt
»Migrationscollagen«
von Annette Lübbers
Zwei Frauen sitzen sich an einem Schreibtisch gegenüber. Die eine trägt große Ohrringe und ein Kleid in Goldtönen, Augen und Mund sind grell geschminkt, das Haar rot gefärbt und in Wellen gelegt. Ihr Gegenüber ist eine nüchtern wirkende kurzhaarige Frau in dezenter, dunkler Bluse. Die eine ist russischsprachige Migrantin, die andere eine deutsche Beamtin. Beide haben kaum eine Chance, die Signale der jeweils anderen zu verstehen. »Noch mehr Schokolade« ist der Titel dieser Collage aus buntem Papier und Werbeverpackungen mit kyrillischen Buchstaben. Das Bild ist Teil einer Ausstellung, die derzeit in der Begegnungsstätte Alte Synagoge in Wuppertal-Elberfeld zu sehen ist.
»Migrationscollagen« nennt Julia Bernstein ihre Ausstellung. Die 34jährige verließ Anfang der 90er Jahre ihre Heimatstadt Charkow in der Ukraine und wanderte nach Israel aus. In Haifa studierte sie Kunstgeschichte, Soziologie und Anthropologie und kam 2002 nach Deutschland, um hier Feldforschungen zu betreiben. Derzeit lebt sie mit ihrer Familie in Frankfurt am Main.
Ihre sozialwissenschaftliche Studie über jüdisch-russische Migranten in Deutschland kombinierte sie mit einem »bildlichen Tagebuch«, aus dem sich eine »ungewöhnliche, aber fruchtbare wissenschaftlich-künstlerische Kombination ergeben hat«, erklärt die Künstlerin.
Ihre Motive zieht Julia Bernstein aus Alltagsbegegnungen im Supermarkt, auf der Straße, beim Mittagessen. Situationen, die trotz ihrer Alltäglichkeit für die Zugewanderten oft surreale Ausmaße annehmen. Den Zeichnungen und Collagen zugeordnet hat die Künstlerin Zitate von Einwanderern, die deutlich machen, wie groß die Unterschiede sind zwischen dem Gestern und dem Heute. »Jedes Beschaffen war (in der Sowjetunion) ein Ereignis. Und hier: Du hast gekauft und nichts«, schreibt einer der Interview-Partner.
Bernstein thematisiert in ihrer Ausstellung nicht nur die Stolpersteine im Alltag eines Migranten, sie beleuchtet auch die Sehnsüchte von Menschen, die ihre Heimat verlassen haben und in Deutschland noch nicht angekommen sind. Die Bäume in ihren Collagen stehen für ein »Heimatkonzept«. Gleichzeitig sind sie Sinnbilder für die Entwurzelung der Migranten.
»Im Gegensatz zum allgemein den Migranten zugeschriebenen Bild als passive und an den sozialen Rand gedrängte Sozialhilfeempfänger, als Menschen, die sich nicht auskennen, ausschließlich Schwierigkeiten mit sich bringen und wie erwachsene Kinder behandelt werden müssen, versuche ich sowohl durch meine wissenschaftliche als auch durch meine künstlerische Arbeit, diese Menschen aus ihrer Perspektive wahrzunehmen und zu präsentieren und so ihre Position in der gesellschaftlichen Collage zu verorten. Denn hinter der stereotypen Zuschreibung ›Russen‹ verbirgt sich eine äußerst heterogene Welt, die ich aufzeigen möchte«, erklärt Bernstein.
Die Ausstellung ist noch bis zum 28. Oktober zu sehen. Geöffnet Dienstag bis Freitag und Sonntag von 14 bis 17 Uhr oder nach telefonischer Absprache.