Kosovo

Seelenverwandt

von Michael J. Totten

Israel ist in der Kosovofrage gespalten: Soll man den jüngsten Staat der Erde anerkennen oder nicht? Manche befürchten, so etwa der frühere Minister für Strategische Angelegenheiten, Avigdor Lieberman, dass die einseitige Unabhängigkeitserklärung des Kosovo die Palästinenser ermutigen könnte, einen ähnlichen Schritt zu tun. Allerdings hat der kleine Balkanstaat in Wirklichkeit mehr mit Israel gemeinsam als mit der Westbank und dem Gasastreifen.
Israelis unterhalten ausgezeichnete Beziehungen mit den Kosovaren, schreibt Amir Mizroch in der Jerusalem Post: »Israel hat ein Interesse daran, bei der Etablierung eines moderaten und säkularen muslimischen Staates im Herzen Südosteuropas mitzuhelfen, der Jerusalem und Washington freundlich gesinnt ist.« In der Tat ist Kosovo weder ein Feind Israels noch ein Dschihadisten-Staat. Die dort vorherrschende Variante des Islam ist der Sufismus – und der ist ganz am anderen Ende des Spektrums angesiedelt als der Wahhabismus oder der Salafismus, in denen Al-Qaida und andere Terrorgruppen wurzeln.
Kosovo gehört auch nicht zu der Achse Iran-Syrien-Hisbollah-Hamas. Im Gegenteil, Kosovo hat alles auf den Westen gesetzt, vor allem auf die Vereinigten Staaten. Serbiens weggebrochene Provinz ist womöglich das pro-amerikanischste Land in ganz Europa. Bill Clinton wird hier genauso als Befreier verehrt – ein Prachtboulevard in der Hauptstadt Pristina ist nach ihm benannt – wie der alte und der neue Präsident Bush in Irakisch-Kurdistan. Daher überrascht es wenig, wenn die Jerusalem Post einen israelischen Regierungsbeamten mit den Worten zitiert, dass Israel Kosovo wahrscheinlich anerkennen wird, nachdem die USA, Großbritannien, Deutschland und Frankreich das auch getan haben.
Bedenken, dass die Unabhängigkeit des Kosovo weltweit ähnliche Reaktionen von den Palästinensergebieten über das Baskenland bis nach Tschetschenien auslösen könnte, sind verständlich, aber übertrieben. Bosnien hat seinerzeit seine Unabhängigkeit erklärt, ohne einen Dominoeffekt außerhalb Jugoslawiens auszulösen. Ebenso Kroatien, Slowenien, Mazedonien und Montenegro. Montenegro hat seine Unabhängigkeit von Serbien erst vor knapp zwei Jahren erklärt. Die Palästinenser haben das wahrscheinlich gar nicht mitbekommen. Der Rest der Welt ja schließlich auch nicht. In jedem Fall hatte es nicht die geringste Auswirkung auf den arabisch-israelischen Konflikt.
Die Irrelevanz des Kosovo für den Nahostkonflikt wird noch dadurch unterstrichen, dass kein einziges arabisches Land Kosovo bisher anerkannt hat. Die einzigen muslimischen Länder, die das taten, sind die Türkei, Malaysia, Senegal, Albanien und Afghanistan. Die Regierungen dieser Länder sind – in unterschiedlichem Ausmaß – entweder gemäßigt oder befinden sich im prowestlichen Lager – oder beides. Außer Albanien verfügen sie selbst alle über relevante ethnische Minderheiten. Besonders die Türkei hat mit den Kurden ihr eigenes Separatistenproblem – und hat Kosovo dennoch umgehend anerkannt.
Vielen Kosovaren ist sehr wohl bewusst, dass sie mit Israel viel mehr gemeinsam haben als mit den Palästinensern in der Westbank und Gasa. »Früher haben wir Kosovaren uns mit den Palästinensern identifiziert, weil wir sowohl Serbien als auch Israel als Eroberer fremden Landes ansahen«, erzählte ein prominenter Kosovare neulich dem Journalisten Stephen Schwartz. »Dann haben wir uns die Landkarte genauer angesehen und umgedacht. Es gibt sechs Millionen Israelis, auf der einen Seite liegt das Meer und auf der anderen die feindlichen Araber. Im Kosovo leben acht Millionen Menschen, auf der einen Seite liegt das Meer und auf der anderen die feindlichen Slawen. Warum sollten wir uns also mit den Arabern identifizieren?«
»Viele Palästinenser sympathisierten mit dem serbischen Diktator Slobodan Milosevic«, schrieb Stephen Schwartz schon 2002 im Middle East Quarterly. »Eines der surrealistischsten Ereignisse während des gesamten Jahrzehnts der Balkankriege ereignete sich sechs Monate, nachdem die NATO Serbien bombardiert hatte: Am 1. Dezember 1999 lud die Palästinensische Autonomiebehörde Milosevic nach Bethlehem ein, um das orthodoxe Weihnachtsfest zu feiern. Diese Einladung, die im Westen mehr oder weniger ignoriert wurde, war die Topnachricht in den jugoslawischen Medien. Ein Sprecher des israelischen Außenministeriums sagte damals, sollte Milosevic die Einladung annehmen, würde er bei der Einreise verhaftet werden, da Israel als Mitglied der UNO an die Beschlüsse des Haager Tribunals gebunden ist, das gegen Milosevic wegen Kriegsverbrechen ermittelte. Die Autonomiebehörde – kein UNO-Mitglied – war an solche Beschlüsse nicht gebunden. Und nicht nur die Autonomiebehörde fiel den Kosovaren in den Rücken. Noch früher im Jahr 1999 veröffentlichte die Hamas eine Erklärung, in der die NATO-Intervention zur Beilegung der Kosovo-Krise verurteilt wurde. Der Westen verstecke sich ›hinter Menschenrechtsrhethorik, um sich den Balkan zu unterwerfen‹. Damit äffte die Hamas die Beschuldigungen der offiziellen serbischen Propaganda nach – genauso wie die Russen und zahlreiche Linke weltweit«, so Schwartz.
Die Palästinenser waren nicht die einzigen Araber, die sich an die Seite Milosevics und gegen ihre muslimischen Glaubensbrüder stellten. Milosevic hatte enge Kontakte zu Saddam Hussein (wie übrigens auch die demokratische serbische Nachfolgeregierung unter Vojislav Kostunica). Der CBS-Reporter Ed Bradley berichtete 2003, dass Jugoslawien Waffen, Sprengstoff und sonstige militärische Ausrüstung – darunter solche, mit der Saddam sein Arsenal an Scud-Raketen aufstocken konnte – im Wert von drei Milliarden Dollar in den Irak exportierte und damit das Embargo gegen den Irak brach.
Nicht nur geopolitisch stehen Israelis und Kosovaren auf derselben, der westlichen Seite. Es gibt noch so etwas wie eine Seelenverwandtschaft, die sie auch mit den irakischen Kurden verbindet. Sie alle sind ethnische Minderheiten in den jeweiligen Landstrichen, in denen sie leben, und sie alle möchten ein Stück Land für sich haben, auf dem sie von der sie umgebenden Mehrheit unbehelligt bleiben, die sie am liebsten unterdrücken oder vertreiben würde.
90 Prozent der Kosovaren sind ethnische Albaner. Sie erheben keinerlei Ansprüche auf serbisches Kernland. Weder wollen sie Belgrad erobern und von Serben säubern, noch wollen sie die Serben unterwerfen und beherrschen. Sie wollen nichts anderes, als was die anderen ehemaligen jugoslawischen Teilrepubliken auch erreicht haben.
Während fast die ganze Welt der Meinung ist, dass die Palästinenser einen eigenen Staat bekommen sollten, wird Israels Existenzrecht in gewissen Kreisen immer noch infrage gestellt. Ebenso wird das Existenzrecht Kosovos von vielen bestritten, und es ist nicht abzusehen, dass sich daran bald etwas ändern wird. Niemand stellt das Existenzrecht irgendeines arabischen Staates infrage oder das des serbischen oder eines anderen slawischen Staates. Kosovo ist das neue Mitglied in einem sehr exklusiven Klub.
Würde Albanien das Kosovo als Brü-ckenkopf benutzen, um Belgrad zu erobern, hätten die Serben natürlich das Recht, im Kosovo einzumarschieren, so wie es die Israelis 1967 als Folge der arabischen Aggression im Westjordanland und in Gasa taten. Aber weder die Albaner im Allgemeinen noch die Kosovaren im Besonderen haben eine solche Aggression gegen die Serben im Sinn.
Belgrads Anspruch auf das Kosovo ist ohnehin höchst fragwürdig. Es wurde erst zu einem Teil Serbiens, als Milosevic 1989 den Autonomiestatus des Kosovo aufhob, den es innerhalb Jugoslawiens zuvor innegehabt hatte. Die Serben betrachten das Kosovo als ihr Eigentum, weil es in den stark emotional gefärbten Nationalmythen Serbiens eine wichtige Rolle spielt. Es ist den Serben deswegen so wichtig, weil dort der Fürst Lazar die Schlacht auf dem Amselfeld im Jahre 1389 gegen die Türken – nicht etwa gewonnen, sondern verloren hat. Da ist sogar der arabische Anspruch auf Tel Aviv noch eher nachzuvollziehen.
Anders als für die europäischen Juden während des Zweiten Weltkriegs gab es für die Albaner im Kosovo einen Staat, in dem sie vor Verfolgung und Genozid Unterschlupf fanden: Albanien. Dieses Glück hatten die Juden erst ab 1948, seit der Gründung Israels. Doch weder Juden noch Koso- varen sollten noch einmal in eine Situation kommen, in der sie fliehen müssen.

Der Autor ist freier Journalist, schreibt unter anderem für die New York Times und das Wall Street Journal und berichtet regelmäßig aus dem Nahen Osten.
www.michaeltotten.com
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