New Yorker Kibbuz

Sechs Zimmer Kommunismus

von Hannes Stein

Hinter dem breiten Rücken von General Grant ist der Kommunismus ausgebrochen. General Grant reitet als Bronzestatue hoch zu Ross in Brooklyn, da wo die Rogers und die Bedford Avenue sich gabeln. Geht man die Rogers Avenue nur ein paar Schritte weiter, steht man vor einem unauffälligen zweistöckigen Haus. Just dort findet im Erdgeschoss der Kommunismus statt, ganz im Stillen.
Der Kommunismus hat sechs Gesicher und sechs Namen: Jamie und Tal und Karen und Jane und Yotam und Daniel. (Zwei von den beiden sind ein Paar.) Der Kommunismus wohnt in einer Sechszimmerwohnung mit Garten für 3.500 Dollar im Monat. Aber alles der Reihe nach und von Anfang an.

Die sechs Menschen, aus denen der Kommunismus sich zusammensetzt, kennen einander schon ein bisschen länger. Sie sind Mitglieder der linkszionistischen Jugendbewegung »Haschomer Hazair«, die auf eine lange und ruhmreiche Geschichte zurückblicken kann (so war »Haschomer Hazair« führend am Aufstand im Warschauer Ghetto beteiligt). Allerdings war die Jugendbewegung nach dem israelischen Unabhängigkeitskrieg ziemlich in die Jahre gekommen. Eigentlich taten ihre Mitglieder am Ende nur noch eines: Sie organisierten Sommerlager für Kinder.
Doch in jüngster Zeit fand ein erstaunliches Revival statt: »In Israel ist uns ›Haschomer Hazair‹ ungefähr sechs Jahre voraus«, erläutert Yotam, ein sehr ernsthafter junger Mann, der das schicke Blauhemd der zionistischen Organisation mit lässigem Stolz trägt. »Aber auch bei uns in Nordamerika – in den USA und Kanada – wird ›Haschomer Hazair‹ wieder stärker.« Die sechs Mitglieder der Gruppe, die in Brooklyn den Kommunismus vorlebt, fand sich in Israel, im Kibbuz Mischmar HaEmek. Von dort aus gingen die sechs in das arabische Dorf Barta’a, das exakt auf der »grünen Grenze« von 1967 liegt – jetzt wird es also von der Sperranlage in zwei Teile geschnitten, mit der Israel sich gegen den Terror schützt. Die jungen Leute knüpften Beziehungen zur örtlichen Schule und brachten den arabischen Kindern Englisch bei. »Wir taten das sehr bewusst«, sagt Yotam. »Die Einzigen, die sich außer uns um die Araber kümmerten, waren Antizionisten. Wir wollten zeigen, dass Zionisten das genauso gut können.«
Der Aufenthalt in Israel war zeitlich auf ein Jahr begrenzt: Doch die Sechs wollten danach noch zusammenbleiben, als Kollektiv leben, als »Kwuzat Orev« – Rabengruppe. Das ist der Name, der auf Hebräisch auf Yotams Blauhemd steht. Und warum Brooklyn? Warum ausgerechnet diese Gegend, Crown Heights? »Es hat sich so ergeben«, sagt Daniel. »Wir haben hier eine Wohnung gefunden.« So kam es, dass im Oktober 2007 hinter General Grants Rücken massiv der Kommunismus ausbrach.
Wir sitzen zu dritt in der Wohnküche des Kollektivs und trinken koscheren Bio-Rotwein aus Österreich, den der nimmermüde Reporter in treuer Pflichterfüllung auf den Tisch gestellt hat. Es war gar nicht leicht, die Mitglieder der »Kwuzat Orev« zu finden. Richtige Detektivarbeit war nötig. Man findet zwar durch heftiges Googeln eine Website im Internet, aber dort ist weder eine E-Mail-Adresse noch eine Telefonnummer angegeben. Es erwies sich als nötig, auf Methoden zurückzugreifen, die vor der Erfindung des Computers üblich waren: Der nimmermüde Reporter schrieb einen kleinen Brief in astreinem Hebräisch und klebte ihn mit Tesafilm an die Haustür. So kamen wir in Kontakt.
Wie links sind die Mitglieder der »Rabengruppe« in Brooklyn denn nun wirklich? »Ich bin Marxist«, antwortet Yotam wie aus der Pistole geschossen. »Ich halte den Kapitalismus für zerstörerisch und möchte ihn überwunden sehen.« Daniel will dem Leben in der »postmodern-spätkapitalistischen Metropole« einen anderen Lebensentwurf entgegensetzen. Ist den beiden dabei klar, dass die Kibbuzbewegung in Israel in einer tiefen Krise steckt, dass sie – um es etwas weniger höflich zu sagen – zutiefst pleite ist? Hat ihr Experiment nicht etwas geradezu rührend Anachronistisches? »Wir versuchen, von den Fehlern der Kibbuzbewegung zu lernen«, erklärt Yotam. »Wir sind kleiner, flexibler. Und wir versuchen, all unsere Konflikte durch Diskussionen zu lösen.«
Die Sechs sind buchstäblich – wie es bei Bertolt Brecht heißt – ein Herz und ein Sparkassenbuch. Die »Kwuzat Orev« hat ein gemeinsames Bankkonto, in das jedes Mitglied einzahlt und von dem jeder abhebt. Dieses Kollektiv geht also weit über das hinaus, was in jeder deutschen Studenten-WG als normal gilt. Woher kommt das Geld, das auf dem kommunistischen Konto landet? Zwei haben bezahlte Jobs bei »Haschomer Hazair«. Reich ist keiner hier. »In Wahrheit ist das gemeinsame Konto aber das geringste unserer Probleme«, erzählt Daniel. »Viel schwieriger ist, dass wir alle unsere Emotionen in gemeinsamen Gesprächen offenlegen müssen.« Wahrscheinlich hilft es, denkt es im nimmermüden Reporter an dieser Stelle mit einem tiefen Seufzer, dass kein Mitglied der »Kwuzat Orev« älter als Mitte 20 ist. »An jedem Donnerstag ist Gruppennachmittag«, sagt Yotam, »dann treffen wir uns hier an diesem Küchentisch und reden, manchmal bis Mitternacht und darüber hinaus. Und kein anderer Termin, auch wenn er sich noch so wichtig anhört, darf dem in die Quere kommen.«
Ist denn auf lange Sicht an eine kollektive Alija gedacht? »Das wird bestimmt das Thema weiterer Diskussionen sein«, meint Yotam. Auch in Bezug auf Israel ist »Kwuzat Orev« übrigens eher links als rechts eingestellt. »An meiner Uni in Kanada«, erzählt Daniel, »gab es eigentlich nur zwei Haltungen: entweder extrem zionistisch oder extrem antizionistisch. Am einen Tag wurde also sozusagen der Dschihad gefeiert und am nächsten das auf ewig ungeteilte Israel. Ich fand mich in keiner dieser beiden Alternativen wieder, ich bin für die Zweistaatenlösung.« – »Ich kann doch nicht für mein eigenes Recht auf nationale Selbstbestimmung eintreten«, wirft Yotam ein, »und es gleichzeitig den Palästinensern vorenthalten.« Was der Besucher an dieser Stelle mit einem tiefen inneren Seufzer dachte, sei wohlweislich verschwiegen.
Wie sehen die Beziehungen zu den Nachbarn aus? Die Gegend, in der »Kwuzat Orev«

residiert, ist gleich in doppelter Hinsicht schwarz: Rundherum leben Einwanderer aus der Karibik, und ein paar Straßenzüge weiter erstreckt sich der legendäre Eastern Parkway mit dem Hauptquartier der Lubawitscher Chassiden. Die Rabengruppe ist also von Menschen mit schwarzer Hautfarbe und von Schwarzhüten umgeben. »Bis jetzt haben wir noch keine richtige Beziehung zu unseren Nachbarn aufgebaut«, gibt Yotam zu. Aber es besteht der Vorsatz, vielleicht an eine der Schulen in der Umgebung zu gehen und den Kindern die Vorzüge der kollektivistischen Lebensweise nahezubringen. Yotam gibt schon jetzt an einer Schule in einem anderen Stadtteil Unterricht – unentgeltlich, versteht sich. Doch Kontakte zu den Lubawitschern? Nein, da hört die Toleranz auf. Allerdings ist es nicht so, dass die Rabengruppe völlig unreligiös wäre. Immerhin zwei ihrer Mitglieder wollen sogar ernsthaft Rabbiner werden.
Wie sieht die Zukunft aus? Wird »Kwuzat Orev« noch existieren, wenn alle sechs verheiratet sind und Kinder haben, wenn einer von ihnen 100.000 Dollar im Jahr verdient und der andere als Arbeitsloser herumhängt? Wird der Kommunismus eines Tages aus der Sechszimmerwohnung in Brooklyn ausziehen, weil er sich ein Appartment in der Lower East Side von Manhattan leisten kann, das aber de facto von einem Börsenbroker unter den roten Raben bezahlt wird? Und wird es dieser Utopie dann wie allen anderen Utopien in der Geschichte der Menschheit ergehen – wird sie sich in Gift und Galle auflösen und nichts hinterlassen als eine Pfütze böses Blut?
»Keine Ahnung«, sagt Daniel. Yotam ergänzt: »Ich kann nur sagen, dass wir, wenn die Zeit kommt, darüber diskutieren werden.« Ach, edle Einfalt! Nichts leichter, als sich über »Kwuzat Orev« lustig zu machen. Aber es ist auch schwer, sich von der Ernsthaftigkeit dieser jungen Leute nicht beeindrucken zu lassen: Was für ein Idealismus, was für eine Noblesse! General Grant, der, den Schlapphut ins Gesicht gedrückt, auf seinem Bronzeross der Zukunft entgegenreitet, weiß es auch nicht besser.

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