Vor Kurzem hatte ich einen Traum. Es war, als ob ich unsichtbar sei, in einer Gegend, die ich gut kenne. Ich bin in Babi Jar, als sich die Nazis am Vorabend auf die geplante Massenhinrichtung vorbereiten. Ich sehe die Hinrichtungsmannschaft, ganz friedlich sitzen sie beisammen, trinken Kaffee, Tee oder Schnaps, reden miteinander und lesen Dienstanweisungen für den nächsten Tag. Sie besprechen das Ganze und der eine sagt: »Das verstehe ich nicht ganz! Was machen wir mit den Kindern, und was machen wir mit den Alten?« Dann kommt eine Frau vorbei und sagt zu einem der Soldaten: »Kann ich etwas Zucker für mein Kind haben?« Er antwortet: »Ja, kannst du haben.« Da sagt ein anderer Soldat zu ihm: »Warum gibst du ihr Zucker? Sie braucht es doch nicht mehr!« Ich bin quasi als Zeuge dabei und möchte es verhindern, kann es aber nicht. Das war sagenhaft. In diesem Moment bin ich aufgewacht und habe geschrien.
Ich habe diesen Traum analysiert. Er hat mit meiner Arbeit zu tun: Ich bin mit vielen Menschen im Gespräch, die Schreckliches erlebt haben. Ich arbeite für den Bundesverband Information & Beratung für NS-Verfolgte, das liegt mir sehr am Herzen. Ein Kollege, der wie ich zur Second Generation gehört, sprach mich an: »Du, das ist was für dich.« Er sollte recht behalten. Zur Zeit bereite ich mit meiner Kollegin eine Konferenz im November in Berlin vor, ich werde auch selbst referieren. Es geht um die Spätfolgen bei Überlebenden. Wegen der Übersetzungen stehe ich gerade in engem Kontakt mit Kollegen in Russland und der Ukraine.
Ein Teil dieser Arbeit ist das Erzähl- und Begegnungscafé für NS-Verfolgte in Köln, das vor vier Jahren ins Leben gerufen wurde. Alle 14 Tage treffen sich ehemalige NS-Verfolgte, um ein paar gemeinsame Stunden zu verbringen. Mit meinen Kollegen mischen wir uns unter sie, trinken Kaffee, essen Kuchen, reden über Alltägliches und berühren manchmal auch die Vergangenheit. Viele kommen aus der ehemaligen Sowjetunion, sie sprechen gerne Russisch mit mir. Ich kenne die einzelnen Biografien. Es ist mir wichtig, mit diesen Menschen Umgang zu pflegen, ihnen den Lebensabend so angenehm wie möglich zu machen.
Mein Traum hat auch mit meinem genetischen Gedächtnis zu tun, weil meine Urgroßeltern ebenfalls auf grausamste Art getötet wurden. Damit lebt man, das bleibt. Die Erzählungen der Eltern haben mich geprägt, mein Bewusstsein und mein Unterbewusstsein. Von klein auf wusste ich, dass ich jüdischer Herkunft bin. Unsere Familie war nicht sehr religiös, aber traditionsverbunden – und gebildet. Die Großeltern sprachen Französisch, fast alle Familienmitglieder konnten einigermaßen Deutsch. Ich lernte es ab der ersten Klasse. Ich habe in Charkow Medizin studiert und dort noch Professoren erlebt, die vor dem Krieg an der Berliner Charité gearbeitet haben.
Zum ersten Mal in Deutschland war ich 1989, um die Zeit des Mauerfalls. Ich habe die Kundgebungen in Leipzig und Dresden erlebt und danach sehr viel über Deutschland nachgedacht. Es waren verschiedene, auch zwiespältige Gefühle. Aber ich war für die Wiedervereinigung.
Kurz bevor sich die Sowjetunion auflöste, bin ich nach Deutschland ausgereist. Als ich meine Aufenthaltserlaubnis erhielt, existierte die Sowjetunion nicht mehr. Nach einem Jahr besuchte ich meine Eltern das erste Mal, und da fühlte ich den Unterschied zwischen meinem Leben hier und dem in der alten Heimat. Heute ist Deutschland mein »Homeland«, ich kann nicht sagen, dass es meine Heimat ist. Ich bin hier mehr oder weniger zu Hause, aber ich kann nicht sagen, dass ich mich heimisch fühle. Doch wenn ich in einem anderen Land bin, habe ich Sehnsucht nach Deutschland. Ich möchte dann wieder im vertrauten Rahmen sein, die deutsche Sprache hören, die ich verstehe und sehr mag. Wenn ich in Russland bin, fühle ich mich nicht mehr sehr wohl, die Mentalität hat sich stark verändert. Vor allem stört mich das Gefälle zwischen Arm und Reich.
Ich lebe in Bonn und bin viel mit der Bahn unterwegs. Es gibt bei mir in der Woche nicht viel Routine. Neben dem Bundesverband bin ich bei der Drogenhilfe Köln tätig, ich arbeite in einer geschlossenen Klinik für Drogenabhängige. Es ist eine schwere, aber wichtige Arbeit für mich. Durch meine Sprachkenntnisse kann ich den drogenabhängigen Migranten aus Osteuropa besonders helfen. Die psychologische Betreuung spielt dabei eine große Rolle. Deshalb sind meine Arbeit und die damit verbundenen Termine in der Regel durch Spontaneität gekennzeichnet.
Als russischer Jude, der bewusst in Deutschland lebt, wird mir von Russen und Israelis – und auch von Deutschen – oft die Frage gestellt: »Wie kannst ausgerechnet du als Vertreter der zweiten Generation im Land der Täter leben?« Ich muss zwar keine Rechenschaft ablegen, aber ich sage dann, dass ich nicht an die Rache der Generationen glaube. Diejenigen, die schuldig sind, standen schon vor Gericht. Diejenigen, die nicht verurteilt wurden, sind alt, sterben bald und stehen dann vor Gott, der sie richten wird. Ansonsten gehe ich von einer Unschuldsvermutung aus, wenn ich einem Deutschen begegne.
Meine innere Ruhe ist mir wichtig. Ich bin ein freundlicher und gutmütiger Mensch, aber ich habe auch Grenzen. Was ich nicht mag, sind Gemeinheit, Totalität, Respektlosigkeit und Brutalität. Bis zu einer gewissen Grenze bin ich ein Ja-Sager. In grundsätzlichen Fragen aber, was Gewissen, Religion, Freundschaft und Anstand betrifft, bin ich sehr prinzipiell, sogar rigide. Ich zitiere gerne meinen seligen Großvater: »Freundschaft ist wie eine Schwangerschaft. Entweder gibt es sie oder es gibt sie nicht.«
Ich mag es, wenn Menschen einander schätzen und respektieren. Das Wort Toleranz ist für mich keine Floskel. Am 8. Mai wurde hier in der jüdischen Gemeinde das Kriegsende gefeiert. Es waren Kriegsveteranen da, in einem festlichen Raum gab es ein Konzert, ein Abendessen, Wein, Laudatien und Gratulationen. Ich fragte mich: »Wo bin ich hier?« Es ist für mich ein Zeichen, wie tolerant Deutschland geworden ist. Kriegshelden, die Nazideutschland besiegt haben, werden hier nicht nur toleriert, sondern gefeiert.
Mein Ziel ist es, dass auch in meiner Heimat, der früheren Sowjetunion, die Erinnerungskultur, die sich hier in Deutschland entwickelt hat, verstanden und übernommen wird. Dies gilt für die NS-Verfolgten wie für die stalinistisch Verfolgten und natürlich auch für die Doppeltverfolgten, von denen viele noch leben. Was die deutsche Gesellschaft in dieser Beziehung geleistet hat, ist enorm und in gewisser Weise auch ein Selbstreinigungsprozess. Wenn sich so etwas zumindest ansatzweise auch im russischen Raum entwickeln könnte, wäre ich glücklich und würde gern mitarbeiten.
Als Ausgleich zu meinem beruflichen Alltag höre ich privat viel Musik, vor allem Klassik oder Jazz. Ich spiele selbst gern Klavier, manchmal sogar öffentlich, wie kürzlich spontan bei einem Jazznachmittag, da habe ich bei einer Jamsession mitgespielt, das macht mir Spaß. Oder einmal in einem Kölner Teehaus: Meine Freunde wussten, dass ich Klavier spiele und sagten: »Na, traust du dich?« Ich habe dann in diesem alten Teehaus gespielt, es erinnerte mich an die Wohnung meiner Großtante.
Literatur, Musik, gute Freunde sind mir sehr wichtig. Auch Religion. Ich bin zwar nicht tief religiös, aber etwas Tradition spielt für mich schon eine gewisse Rolle. Ab und zu gehe ich zum Schabbatgottesdienst, ich habe ein seelisches Bedürfnis nach Liturgie, nach kantoraler Musik. Ich schätze an der jü- dischen Religion, dass sie weise und wohlwollend zu den Menschen ist.
Ich möchte nicht, dass jüdisches Leben nur mit Verfolgung oder Holocaust in Verbindung gebracht wird, obwohl ich in diesem Bereich arbeite. Ich möchte, dass alle Seiten des jüdischen Lebens gesehen und anerkannt werden, denn es ist ein Teil der europäischen Geschichte. Die jüdische Kultur ist von der europäischen nicht wegzudenken.
Aufgezeichnet von Frank Rothert