Schweigen
statt Applaus
Gedenken im Bundestag:
Ernst Cramers Rede
zum 27. Januar
Der Bundestag erinnerte am vergangenen Freitag in einer Gedenkstunde an die Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Hauptredner des ersten internationalen Holocaust-Gedenktags war der Publizist und Schoa-Überlebende Ernst Cramer. Hier Auszüge aus seiner Rede:
Niemand von Ihnen kann auch nur im
entferntesten ermessen, was es für mich bedeutet, hier zu stehen. Das von Paul Wallot vor 120 Jahren errichtete Reichstagsgebäude war für mich, dem im Kaiserreich Geborenen und in der Weimarer Republik Aufgewachsenen, in meinen jungen Jahren so eine Art Tempel der Nation, ein Dom der Demokratie, ein Garant der Aufklärung. In diesem Palast glaubte ich Freiheit, Liberalität, Toleranz, Menschenwürde und wahres Deutschtum fest verankert. (...)
Am 15. September 1935 hat dann der in jenen Tagen nur noch aus Nationalsozialisten bestehende Reichstag in der Parteitagsstadt Nürnberg die nach diesem Ort benannten Gesetze erlassen. Durch diese wurden allen deutschen Juden, also auch mir, die Bürgerrechte geraubt. Über Nacht wurden mir und allen anderen deutschen Juden die Anrechte entrissen, die sich unsere Vorfahren durch jahrhundertelanges Leben und Wirken in deutschen Landen erworben hatten. Ich – und Hunderttausende Andere – hatten aufgehört, deutsche Bürger zu sein. Im November 1938 wurde ich in ein Konzentrationslager verschickt. Heute nun, ein biblisches Menschenalter später, stehe ich hier im Reichstag, stehe vor den hohen Organen des nochmals erstandenen und wiedervereinten, freien Deutschlands und darf an die Untaten erinnern, die zwischen 1933 und 1945 von Deutschen begangen wurden. (...)
Ohne Täter und Opfer durcheinander- zubringen oder gar gleichzustellen, steht für mich fest: Die grauenhafteste Heimsuchung in der Geschichte der Juden war auch – spiegel- und schicksalsverkehrt – das größte Desaster in der Geschichte der Deutschen: eben der Tiefpunkt. Ich weiß, wovon ich spreche. Als deutscher Jude, der ich trotz der vielen Wechselfälle meines Lebens immer geblieben bin, gehöre ich zu beiden Gruppen, zu den Juden und zu den Deutschen. Zweifach spüre ich deshalb das Leid und die Tragik. (...)
Anstelle irgendeiner Beifallbekundung werde ich Sie um eine Minute des dem Angedenken gewidmeten Schweigens bitten. Zunächst zum Gedenken an die sechs Millionen getöteten Juden, zu denen auch meine Eltern gehören, an die ermordeten Sinti und Roma und an alle Opfer des Nationalsozialismus. Aber darüber hinaus an alle, die im zwanzigsten Jahrhundert irgendwo auf der Erde um ihres Glaubens, ihrer Rasse, ihrer Abstammung, ihres Geschlechts willen oder auch völlig grundlos ermordet wurden. Auf diese Weise, durch gemeinsames Schweigen, ehren wir sie alle.