von Rabbiner Andreas Nachama
Der Aaronitische Segen ist der älteste überlieferte Segensspruch der Bibel, der bis heute im jüdischen wie auch im christlichen Gottesdienst seinen Platz hat. Er wird Mosche im 4. Buch Bemidbar in der Wüste offenbart und Aaron und seinen Söhnen als Segen für das ganze Volk Israel aufgetragen. Nach der Zerstörung des Tempels wurde er von den Kohanim, den Priestern, im Morgengottesdienst der drei Wallfahrtsfeste vor dem Aron Hakodesch unter Tallit verhülltem Angesicht im Wechselgesang mit dem Vorbeter vorgetragen.
Was bedeutet dieser wohl älteste Segensspruch für uns heute? Ich erinnere mich an die Erzählung eines meiner rabbinischen Lehrer: Ein erfolgreicher Geschäftsmann kommt, nachdem mehrere Psychotherapeuten seine Depression behandelt haben, zu ihm, dem Rabbiner. »Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich weiß, dass ich kein guter Jude bin. Ich lerne nicht, ich halte keine Kaschrut. Wenn ich Zeit hätte, wäre ich fromm, aber ich muss arbeiten, arbeiten, arbeiten. Rebbe, ich habe eine Frage: Was tun unsere großen Rabbiner Freitagabend? Was machen Sie am Erew Schabbes?«
»Einige machen etwas heute ganz Trendiges: Sie lesen in der Kabbala!«, sagt der Rabbiner. »O, das ist nichts für mich, das ist zu mystisch«, antwortet der Geschäftsmann. Darauf der Rabbiner: »Andere rezitieren den Talmud aus dem, was sie die Woche über gelernt haben.« »Talmud – nein, unmöglich. Da muss man jeden Tag ran. Ich aber muss jeden Tag arbeiten«, so der Geschäftsmann. »Wieder andere lesen den Wochenabschnitt, weil der am nächsten Morgen in der Synagoge vorgelesen wird.« »Unmöglich, Rebbe. Schabbes früh habe ich keine Zeit, da muss ich arbeiten, dann habe ich auch freitagabends ein schlechtes Gewissen. Und das ist das Letzte, was ich Freitagabend haben will.«
Mein Rebbe war einigermaßen verzweifelt. Was kann, was soll man einem solchen Menschen noch anbieten? Er lehnt sich zurück und beginnt ganz leise die Melodie des Priestersegens. »Es segne und behüte dich der Ewige ...« Was für eine Melodie! Was für ein Text! Nachdem mein Rebbe ihn ohne Text oder allenfalls mit Textbrocken vielleicht fünf Minuten gesummt, gesungen, in Ansätzen rezitiert hat, springt der Geschäftsmann auf und geht zur Tür. »Rebbe, jetzt weiß ich, was ich tun muss.«
Der Priestersegen umfasst drei Zeilen. Die erste sagt: »Es segne und behüte dich der Ewige. Nach Raschi bedeutet das: »Mögen deine posititven Eigenschaften wachsen.« Ibn Esra versteht es eher so, dass die Tage deines Lebens zunehmen mögen.
Wenn die Kohanim diesen Segen rezitiert haben, im Tempel oder jetzt in den orthodoxen Synagogen zu den drei Wallfahrtsfesten, dann verhüllen sie ihr Gesicht, und der Kantor singt das erste Wort: »Es segne dich«. Die Gemeinde antwortet: »Es segne dich der Ewige von Zion her, Er, der Himmel und Erde macht.« Die Kohanim fahren fort: »Der Ewige.« Und die Gemeinde antwortet: »Ewiger, unser Herr, wie mächtig ist Dein ganzer Name auf der Erde.« Das dritte Wort der ersten Zeile heißt: »… und behüte dich«. Die Gemeinde antwortet: »Behüte mich, denn ich habe dir vertraut.«
Der zweite Segensspruch lautet: »Es lasse sein Antlitz leuchten dir der Ewige und beschütze dich.« Sforno sagt: Göttliche Erleuchtung, die zu wahrem Verständnis der Welt führt, ist Gunst. Will heißen, dass die Hörer das, was man aus dem Erkennen schließt, auch verstehen – mit anderen Worten, den Erkennenden nicht für meschugge halten. Das ist ein wahrer Segen, denn wir alle haben schon erlebt, wie hochintelligente Menschen 1 + 1 zusammenzählen und als Ergebnis 11 reklamieren.
Der dritte Segensspruch: »ER wende sein Antlitz dir zu und gebe dir Frieden.« Dann kommen die Kohanim beim Schalom, beim Frieden, an. Die Gemeinde respondiert: »Frieden, Frieden, dem Fernen wie dem Nahen, spricht der Ewige. Ich heile ihn.«
Wir alle wissen, dass es ohne göttlichen Schutz kein Leben gibt. Dieser göttliche Schutz ist Frie- den sowohl im Haus als auch am Arbeitsplatz, in der Gesellschaft und schließlich auch in der Welt. Dieser Frieden ist etwas Vollkommenes und schließt alle ein – auch die Nichtjuden. Denn wenn der Nachbar keine Ruhe gibt, kann man selbst keinen Frieden finden.
Jahre später trifft mein Rebbe den Mann wieder. Er fragt ihn: »Nu, Reb Geschäftsmann, was treibt ihr jetzt Schabbesabend?« »Rebbe, Ihr fragt? Ihr habt es mir doch beigebracht! Jeden Schabbesabend bin ich zu Hause bei meinen Kindern und meiner Frau – und vor dem Kiddusch lehne ich mich zurück in meinem Stuhl, schließe die Augen und summe Birkass Hakohanim. Es gibt kein größeres religiöses Erlebnis für mich und meine Familie.«
Auch die Melodie des Priestersegens, des Kiddusch oder des Kol Nidre sind Gottesdienst, selbst wenn man die Worte nicht versteht oder gar nicht kennt: Wenn wir sie vor den Schabbeskerzen, dem Kidduschbecher und den Challot auch ohne Worte rezitieren, um unsere Hand über unsere Kinder zu legen, stehen wir in der Tradition der Söhne Aarons.
Der Autor ist Rabbiner in der Berliner Synagoge Hüttenweg.