March of the Living

Schulstress

von Tilman Vogt

Zum siebzehnten Mal ertönte unter dem eisernen Schriftzug »Arbeit macht frei« das Schofar. Es gab das Zeichen zum Beginn des »March of the Living«, der sich von Auschwitz nach Birkenau bewegte und an dem dieses Jahr mehr als 8.000 jüdische, aber auch nichtjüdische Jugendliche aus aller Welt teilnahmen. Mit dem Marsch soll einerseits der Triumph des jüdischen Lebens über den Vernichtungswahn der Nazis gefeiert werden. Andererseits werden Jugendliche zur Beschäftigung mit der Schreckensgeschichte ihrer Vorfahren angeregt. Das Erinnerungsereignis besteht nicht nur aus einer Fahrt nach Auschwitz, mit ihm ist eine ganze Studienreise über zwei Wochen durch Polen verknüpft.
Gerade für jüdische Jugendliche aus den USA, deren Großeltern häufig aus Osteuropa flohen, wird der »March of the Living« zu einem enorm wichtigen Ereignis. Oft treffen sie sich im Vorfeld über Monate einmal wöchentlich und bereiten die Reise vor, wobei häufig auch Schoa-Überlebende eingeladen werden. Auch beim Marsch selbst nehmen ehemalige KZ-Häftlinge an der Seite der Jugendlichen teil, die so zu »Zeugen der Zeugen« werden. Rund 5.000 Teilnehmer setzen danach die Reise nach Israel fort und begehen dort Jom Hasikaron und Jom Ha’azmaut. Prinzipiell stellt das Programm einen engen Bezug zwischen der Schoa und der Gründung und Verteidigung Israels her. So wurde der diesjährige Marsch von Gabi Ashkenazi, dem Generalstabschef der israelischen Armee, angeführt.
Aus Deutschland nahm die elfte Jahrgangsstufe der Jüdischen Oberschule Berlin teil. Die 40 Schüler besuchten neben Auschwitz und Majdanek auch Warschau und Krakau. »Vor allem durch das Zusammentreffen mit den vielen jüdischen Jugendlichen aus aller Welt herrschte das Gefühl: Das Ziel der Nazis, die völlige Ausrottung jüdischen Lebens, hat nicht funktioniert«, fasst Hauke Cornelius die Eindrücke der Elftklässler zusammen. Die Geschichtslehrerin begleitete die Schüler.
Es fiel auf, dass die Berliner Schüler die einzigen Teilnehmer aus Deutschland waren. In anderen Ländern scheint das Ereignis mehr Jugendliche zu mobilisieren, schon allein aus Montreal kamen 250 Teilnehmer. So musste die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST), die die Fahrten für die Reisenden aus Deutschland organisierte, im vergangenen Jahr die schon geplante Reise trotz starker Werbeanstren- gungen wegen zu geringer Anmeldezahlen absagen. Dieses Jahr wurde von einer deutschlandweiten Organisierung gar im Vorhinein abgesehen.
Die Gründe für dieses Fernbleiben sieht ZWST-Direktor Benjamin Bloch vor allem darin, dass in Deutschland momentan keine Schulferien sind, die den Jugendlichen erlauben würden, an der Fahrt teilzunehmen. Yarden Lahad, Jugendleiter des Kadima-Jugendzentrums in Düsseldorf sagt, dass es neben den jährlichen Gedenkfeiern gerade in diesem Jahr, da Israel 60 werde, bereits viele Veranstaltungen gäbe, an denen die Jugendlichen der Gemeinde teilnähmen. Bei vielen habe dies den Kalender vermutlich zu schnell zu voll werden lassen.
Ähnlich wie Bloch sieht auch Oleg Tartakowski, Leiter im Duisburger Jugendzentrum Tikwatejnu, das Hauptproblem in der schulischen Belastung der Jugendlichen: »Für die meisten ist das einwöchige Fernbleiben selbst mit Entschuldigung nicht vertretbar.« Durch das zunehmende Eingespanntsein würden auch andere Aktivitäten der Jugend- und Gemeindearbeit immer schwieriger. Andere Stimmen, die hinter dem Fehlen junger Menschen aus Deutschland beim Marsch mangelndes Geschichtsbewusstsein der vor allem russischsprachigen Gemeindemitglieder vermuten, lässt Tartakowski nicht gelten: »Auch die Zuwanderer haben ihre Erfahrungen mit Antisemitismus gemacht.«
Die Tendenz, den Unterricht an öffentlichen Schulen zu verdichten, sollte zu denken geben. Wo bleibt die Kritik, wenn die Auseinandersetzung mit jüdischer Geschichte und Tradition durch immer straffere Lehrpläne offenbar zunehmend erschwert wird?

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