Hugo Chávez

Schützenhilfe

von Harald Neuber

In Venezuela wird in diesen Wochen große Politik gemacht. Präsident Hugo Chávez drängt seine Koalitionspartner zur Gründung einer sozialistischen Einheitspartei. Die staatliche Erdölgesellschaft PdVSA gibt »Volksaktien« in Milliardenhöhe aus, und im Westen des Landes hat Caracas die Armee in einem »Krieg gegen den Großgrundbesitz« mobilisiert.
Der Festakt zum 40. Jahrestag des Dachverbandes der jüdischen Verbände Venezuelas, CAIV, ging dazwischen fast unter. Zu Unrecht. Mit der Gastrednerin Cristina Kirchner war am vergangenen Samstag nicht nur eine argentinische Senatorin in die venezolanische Hauptstadt gekommen, die in ihrem Heimatland als Vorkämpferin gegen den Antisemitismus bekannt ist. Sie ist auch die Gattin des amtie- renden argentinischen Präsidenten Néstor Kirchner – und die derzeit aussichtsreichste Kandidatin für dessen Nachfolge. Cristina Kirchner kam daher nicht nur nach Venezuela, um über lateinamerikanische Integration zu sprechen. Sie kam, um zwischen der linken Regierung Chávez’ und der jüdischen Gemeinde zu vermitteln.
Die Bedeutung des Ereignisses läßt sich am ehesten an der Resonanz messen: Über 1.000 Gäste waren in das Hebräische Sozial-, Kultur- und Sportzentrum gekommen, um die Argentinierin zu hören. Der Moderator brauchte fast zehn Minuten, um die Liste der Persönlichkeiten – meist Diplomaten und Vertreter jüdischer Gemeinden Lateinamerikas – zu verlesen.
Obwohl Kirchner die Wunschkandidatin der CAIV war, wurden die Gäste Zeugen eines Duells, in dem sich beide Seiten zwar in diplomatischer Freundlichkeit, aber mit deutlich unterschiedlichen Positionen gegenübertraten. »Unsere Gemeinschaft hat sich in diese Gesellschaft eingefügt«, bekräftigte Freddy Pressner, der Präsident der CAIV, in seiner kurzen Auftaktrede. Über fünf Generationen und über 100 Jahre sei die moderne jüdische Gemeinschaft aufgebaut worden, »und in dieser Zeit gab es nie ein Problem mit Antisemitismus«. Was implizit bedeutet, dass sich dies heute geändert hat. Dann wurde Pressner deutlicher: »Hier im Raum sitzen Menschen, die noch die Nummer des KZs im Arm tätowiert haben. Niemand soll mir erzählen, dass es den Holocaust nie gegeben habe.«
Die Botschaft war klar, und allen Anwesenden war bewusst, dass das Verhältnis zwischen der jüdischen Gemeinde und der Regierung Venezuelas maßgeblich aus zwei Gründen belastet ist: durch ein strategisches Bündnis zwischen Caracas und Teheran zum einen, und durch die radikale Umverteilungspolitik der Linksregierung zum anderen. Die entschlossene Verteidigung der historischen Wahrheit durch den CAIV-Präsidenten richtete sich daher ebenso an Venezuela und Iran wie Pressners abschließender Aufruf, »Israel zu verteidigen«. In einer Grußbotschaft sah auch der israelische Premier Ehud Olmert die jüdische Gemeinde Venezuelas »eng an der Seite Israels«.
Mit Blick auf die Linkswende der venezolanischen Regierung zitierte der Historiker und ehemalige CAIV-Präsident Elieser Rotkopf wohl bewusst aus der »Prawda« aus den sechziger Jahren. Die Parteizeitung habe damals aus dem nationalen Selbstverständnis der UdSSR nach dem Kampf gegen den Hitlerfaschismus anerkannt, dass ein Volk, das sein Land erfolgreich verteidigt hat, auch das Recht auf einen eigenen Staat hat. Mit Blick auf die venezolanische Staatsidee eines »Sozialismus des 21. Jahrhunderts« warb Rotkopf für die Werte einer gemeinsamen »Zivilisation des 21. Jahrhunderts«, in der die friedliche Koexistenz der Völker höchstes Dogma sei.
Cristina Kirchner hatte es angesichts dieser Vorlage schwer zu vermitteln. In Abweichung von ihrem Redemanuskript ging sie daher zunächst auf die Sorge Pressners vor einem neuen Antisemitismus ein. »Begraben sie ihre Ängste«, wandte sie sich an den CAIV-Präsidenten, »denn auch dieses Lateinamerika blickt auf eine eigene Geschichte der Verfolgung und Unterdrückung.« Jeder Anflug von Antisemitismus würde daher auf Widerstand treffen, sagte die Gastrednerin, die zuvor die Erinnerungskultur und den Gerechtigkeitssinn als »Charakteristika der jüdischen Kultur« hervorgehoben hatte. Kirchner zog in ihrem Diskurs indirekt eine Parallele zwischen den Erfahrung der Juden im Holocaust und denen der Opfer der Militärdiktaturen in Lateinamerika. Die Leidenserfahrung verbinde, weil es in beiden Fällen Minderheiten waren, die im Visier der Gewaltregimes standen. »Wir wissen heute, dass nach dem Putsch in Argentinien in den Konzentrationslagern der Junta besonders Juden gefoltert wurden.«
Drei Jahrzehnte später regierten in Lateinamerika neue Präsidenten, die für Menschenrechte einträten, so Kirchner. Ohne auf die venezolanische und argentinische Zusammenarbeit mit Teheran Bezug zu nehmen, verteidigte Kirchner »unsere Politik der Multipolarität«. Sie stelle »einen Weg zur Sicherung des Friedens« im Sinne der UN-Charta dar. Im reichen Ostteil Caracas’, wo die Häuser hinter meterhohen Mauern und Stacheldraht liegen, rief sie zur Unterstützung der neuen Linken auf. »Es sind nicht religiöse oder ethnische Probleme, unter denen Lateinamerika heute leidet«, sagte Kirchner. Es sei auch nicht die Armut. »Es ist die immense Kluft zwischen Arm und Reich, die uns als Schande anhängt.« Zum ersten Mal seien in Lateinamerika Staatschefs im Amt, die dies anerkennen: »Erst wenn die Entwicklung jedes Einzelnen gewährleistet ist, wird die Barbarei verhindert.«

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