Der Konflikt mit dem Vater entzündete sich ganz klassisch an unterschiedlichen Vorstellungen, wie Michael nach dem Schulabbruch seinen Lebensunterhalt bestreiten sollte. »›Was, glaubst du, ist mehr wert‹, fragte er mich einmal, ›eine Ware oder irgendeine gottverdammte Idee?‹« So machte der alte Herr Greenberg, Betreiber eines Schrottplatzes in der South Bronx, seinem Sohn klar, dass er dessen Zukunft im Metallhandel und nicht in den Medien sah. Und er bekräftigte seine Auffassung mit der Prognose: »Mit den Notizbüchern, die du da vollkritzelst, wirst du nicht mal ‹ne Fahrkarte für die gottverdammte U-Bahn kriegen.«
Ein besonders religiöser Mann war Michael Greenbergs Vater nicht. Das zeigen schon die zitierten Flüche. Aber er hielt das Erbe seines in den 20er-Jahren aus der Ukraine nach Amerika eingewanderten Vaters hoch, der sich selbst als »ein Niemand aus dem Schtetl« bezeichnete. »Es war mehr als ein bloßer Lebensunterhalt, es war die Quelle unserer Identität als Familie, Beweis für unser Fortkommen in New York.« Für den 1954 geborenen Michael wurde der Gewissenskonflikt dadurch etwas gemildert, dass seine Brüder Robert und Ben bereit waren, den Schrottplatz zu übernehmen. Und so fühlte sich Michael frei für eine Existenz, die auf dem Fabrizieren von Wörtern für Zeitungen und Zeitschriften beruhte, wobei die ersten Jahre entbehrungsreich waren. Damals war ihm so ziemlich jedes Mittel recht, um an Geld zu kommen.
urban Von den unterschiedlichsten Methoden des Gelderwerbs berichtet Greenberg in den 44 Essays, die in dem Buch Betteln, Borgen, Stehlen versammelt sind und die zuerst im Times Literary Supplement erschienen. Der Untertitel »Aus dem Leben eines Schriftstellers in New York« ist sehr treffend, beinhaltet er doch die Komponenten Autobiografie, Berufsbeschreibung und Stadtporträt. Der Wandel der Architektur, die Faszination des U-Bahn-Systems, die Rattenplage, Rassenkonflikte und Liebesaffären, das Schulwesen, die Tierwelt im Central Park, der Finanzsektor – Greenberg greift in den Texten so ziemlich alle Phänomene des manchmal schmerzhaft erfahrenen Großstadtlebens auf. Da er sie aber nuancenreich und in Anekdoten darstellt, lesen sie sich so leicht, dass man versucht ist, sie in einem Zug zu verschlingen. Dabei bietet es sich bei der strengen Form von maximal fünf Seiten an, die Essays einzeln wie Pralinen zu genießen.
In seiner Jugend hört der vom »Integrations-Ehrgeiz meines alten Herren« durchdrungene Greenberg Folkmusik und liest Mark Twain in der Absicht, jenes »authentische Amerika« kennenzulernen, »dem ich angehören wollte, von dem ich als New Yorker Jude aber nicht wirklich glaubte, dass ich dazugehörte«. Daher geht er nach Südamerika, hilft in Buenos Aires dem blinden Jorge Luis Borges über die Straße, wird mit 21 erstmals Vater, kehrt zurück an den Hudson, trifft sich mit ehemaligen Mitschülern der hebräischen Tagesschule Beth-El und erinnert sich an die Scherze, die sie mit dem Tora-Lehrer, einem Auschwitz-Überlebenden, getrieben hatten. »Wir waren in Amerika geboren, unberührt von Völkermord«, so Greenberg in der reuevollen Rückschau auf den Schüler, der erst durch die Fernsehberichte über den Eichmann-Prozess eine Vorstellung davon bekam, »was in Europa tatsächlich geschehen war«.
aktiencrash Zur Finanzierung seines Traumberufs und eines Arbeitszimmers im West Village – ein Raum wie »eine Schachtel ohne Seele«, dafür mit Blick auf die »petrochemischen Sonnenuntergänge New Jerseys« – versucht sich Greenberg als flie- gender Kosmetik-Händler in der Bronx, als Taxifahrer und Ghostwriter für die unterschiedlichsten Auftraggeber – Hollywood inklusive. Bei all dem denkt er an die Worte seines Großvaters Louie: »Rackerst du dich für das Vermögen eines anderen Mannes ab? Oder kannst du den Kopf hochhalten und dich deinen eigenen Boss nennen?« 1994 investiert er sein Vermögen in Aktien der mexikanischen Telefonfirma Telmex, die leider erst im Wert steigen, als er sie schon alle leicht panisch abgestoßen hatte.
Es ist das alte Lied vom mittellosen wie erfindungsreichen Poeten, das Greenberg anstimmt, ohne dabei auf die Tränendrüse zu drücken. Spätestens seit 2008 hätte er dazu auch keinen Grund, denn sein Buch Hurry Down Sunshine (Der Tag, an dem meine Tochter verrückt wurde) wurde ein internationaler Erfolg – obwohl es einen wenig amüsanten Stoff behandelt. Greenberg schildert, wie seine Tochter Sally im Alter von 15 Jahren einen psychischen Zusammenbruch erleidet. Nur gut, dass er sich seinerzeit fürs Schreiben entschied – mit Alteisen hätte er kein gutes Mittel gegen die damaligen Sorgen in der Hand gehabt.
Michael Greenberg: Betteln, Borgen, Stehlen. Aus dem Leben eines Schriftstellers in New York. Aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser. Hoffmann und Campe, Hamburg 2010, 223 S., 20 €