von Wolfgang Wippermann
Es geschah 1984 in Stuttgart. Vier Tage lang diskutierten deutsche und ausländische Historiker über den »Mord an den Juden im Zweiten Weltkrieg«. Genauer über die Frage, wer, wann und wie – in schriftlicher oder mündlicher Form – den Befehl dazu gegeben hat. Alles in vorgeblich objektiver, betont nüchterner und natürlich wissenschaftlicher Weise. Am Ende der Konferenz bat Saul Friedländer noch einmal ums Wort, »um ein Unbehagen zu äußern«. Nämlich folgendes: »Die Debatte war wissenschaftlich, weil wir wissenschaftlich sein müssen. Aber es war eine Debatte über Massenmord«.
Friedländers »Unbehagen« war berechtigt. Nicht nur bei dieser Konferenz, sondern generell, wenn sich deutsche Historiker mit dem Holocaust beschäftigten. Haben sie dies doch mit den gleichen Methoden, der gleichen Perspektive und vor allem der gleichen Sprache getan, die sie bei der Erforschung anderer »normaler« historischer Phänomene angewandt haben. Bewußt übersahen sie, daß es sich beim Holocaust eben nicht um ein »normales«, sondern um ein besonderes und möglicherweise sogar singuläres Phänomen gehandelt hat. Über den »Massenmord« Hitlers schrieben sie so wie über die Kriege Friedrichs des Großen. Darauf, auf ihre vermeintliche emotionslose Nüchternheit und wissenschaftliche Objektivität waren sie ausgesprochen stolz. Wer über den Holocaust nicht aus der Perspektive der Täter, sondern der Opfer, nicht wissenschaftlich nüchtern, sondern auch emotional in nicht abstrakter, sondern konkreter Weise redete und schrieb, wurde der Emotionalität und Unwissenschaftlichkeit geziehen oder gar wie H. G. Adler, Joseph Wulf und andere Überlebende des Holocaust aus dem Diskurs der Historiker ausgegrenzt.
Saul Friedländer hat sich nicht ausgrenzen lassen. Weder als Überlebender noch als Historiker des Holocaust. Er hat geradezu den Spieß umgedreht und die vorgetäuschte Objektivität und Wissenschaftlichkeit seiner deutschen Kollegen entlarvt und ihnen gezeigt, wie man wirklich objektiv und wissenschaftlich und in angemessener Sprache über den Holocaust schreiben kann und soll. Damit ist er zum Lehrmeister einer neuen deutschen Historikergeneration geworden. Wie und warum?
Einmal in seinen frühen Arbeiten über »Papst Pius XII. und das Dritte Reich« (1965) in dem er das Schweigen dieses Papstes zum Holocaust anprangerte, und über »Die Zwiespältigkeit des Guten« (1967) in der Person des SS-Offiziers Kurt Gerstein. 1982 folgte der brilliante Essay über »Kitsch und Tod«, in dem er den bewussten und unbewussten »Widerschein des Nazismus« in den populären Darstellungen Hitlers und des Holocaust darstellte und kritisierte. Für meine Studenten ist das Pflichtlektüre. Doch leider nicht für viele Film- und Fernsehschaffende, die uns Hitler und seine Feldherren, Frauen, Hunde etc. bis zu seinem völlig verkitschten »Untergang« nahe-, viel zu nahebringen. Bis wir Bewunderung für den erfolgreichen und Mitleid mit dem alten Hitler empfinden und vielleicht auch sollen. Mit diesem »Widerschein des Nazismus« erzielen die Eichingers und Knops zwar gute Quoten, aber das Gegenteil von Aufklärung.
Daß dies auch auf einige deutsche Historiker zutraf, machte Friedländer in seinem schon legendären (1988 in den Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte veröffentlichten) Briefwechsel mit Martin Broszat deutlich. Hier wies er die von Broszat geforderte »Historisierung« des Nationalsozialismus zurück, weil dies nur zu einer Relativierung des Holocaust führe. Außerdem machte Friedländer klar, daß es den von Broszat und anderen deutschen Historikern behaupteten Gegensatz zwischen der »mythischen Erinnerung der Opfer« und der »wissenschaftlichen Beschäftigung« der Historiker mit dem Holocaust nicht gibt und geben muß. Gedächtnis und Geschichte gehören zusammen. Denn: »Wenn das Wissen kommt, kommt auch die Erinnerung. Wissen und Erinnerung sind dasselbe«.
Dieses Zitat von Gustav Meyrink hat Friedländer auch seinen (schon 1978 erschienenen) Erinnerungen vorangestellt, in denen er beschreibt, wie er unter falschem Namen und versteckt in einem katholischen Internat in Frankreich den Holocaust überlebt hat, um dann zum überzeugten Zionisten und Historiker des Holocaust zu werden. Aus dem 1932 als Kind deutschsprachiger Juden in Prag geborenen Paul wurde Saul Friedländer.
Seine Geschichte des Holocaust ist sein Lebens- und Meisterwerk. Der erste Band »Das Dritte Reich und die Juden. Die Jahre der Verfolgung 1933-1939« erschien 1998. Jetzt ist der zweite Band, »Die Jahre der Vernichtung. Das Dritte Reich und die Juden 1939-1945« herausgekommen. Im Zentrum steht wieder Hitler und dessen Ideologie, die Friedländer als »Erlösungsantisemitismus« kennzeichnet. Hitler und der Antisemitismus führten zur »Endlösung der Judenfrage«. Dies kann man auch anders sehen: Die Konzentration auf Hitler kann von der Mittäterschaft der deutschen Eliten und nicht aller, aber vieler Deutschen ablenken. Die Betonung der ideologischen kann zu einer Vernachlässigung der ökonomischen Faktoren des Rassenmordes führen, dem auch andere als »rassisch minderwertig« stigmatisierte Gruppen zum Opfer gefallen sind: »Asoziale«, Geisteskranke und Homosexuelle – Slawen und Sinti und Roma. Doch diese »anderen Opfer« erwähnt Friedländer kaum (die Sinti und Roma kennzeichnet er konsequent und falsch als »Zigeuner«), weil sie für die Nationalsozialisten nur eine »passive Bedrohung« dargestellt hätten. Anders beurteilen kann man auch das Verhalten einiger Völker, die von Deutschland überfallen worden waren und einem brutalen und rassistisch geprägten Besatzungsregime unterworfen worden waren. So der Polen, die von Friedländer als überwiegend antisemitisch eingestellt präsentiert werden. Hier hätte er den »Rat für die Unterstützung der Juden« (ZEGOTA), deren bekanntestes Mitglied Wladyslaw Bartoszewski war, erwähnen können. Doch weder diese, noch andere polnische »Gerechte unter den Völkern« tauchen in Friedländers Band über die Jahre der Vernichtung auf.
Anderer Meinung kann man auch über die Darstellung und Bewertung der unter deutscher Herrschaft gebildeten jüdischen (Zwangs-)Organisationen in Ost- und Westeuropa sein. Die »Reichsvereinigung der Juden in Deutschland« wird kurz, knapp und ziemlich vernichtend als »Judenrat auf nationaler Ebene« bezeichnet. Unkommentiert wird der Wunsch der Berliner Beauftragen der Jewish Agency, Recha Freier, wiedergegeben, dem Vorsitzenden der »Reichsvereinigung« Leo Baeck den »Heiligenschein« herunterzureißen. Der »zionistischen Führung (...) kein nennenswertes Engagement für die Erleichterung des Schicksals der Juden in Europa« zu unterstellen, geht, mit Verlaub, auch etwas zu weit. Was hätte sie, was hätte vor allem der Jischuw denn tun können?
Doch dies sind, wie erwähnt, Ansichtssachen. Und noch dazu innerjüdische, in die man, in die ich mich ungern einmische. Meine volle Zustimmung findet die Beurteilung, bzw. Verurteilung des Verhaltens der nichtjüdischen Deutschen. Sie fällt klar, deutlich und niederschmetternd aus, obwohl sich Friedländer von der These des übrigens nur einmal erwähnten Daniel Jonah Goldhagen distanziert, wonach die Verfolgung und Ermordung der Juden »Ausdruck einer tief sitzenden und historisch einzigartigen antijüdischen Leidenschaft« der Deutschen gewesen sei.
Mit derartigen, zwar einleuchtenden, aber eben doch zu einfachen Deutungen gibt sich Friedländer nicht ab. Er schürft viel tiefer, gründlicher und vor allem breiter. In chronologischer Vorgehensweise, wobei die Geschehnisse von jeweils sechs Monaten gebündelt werden, wird das gesamte Geschehen in insgesamt 17 europäischen Staaten dargestellt. Wissenschaftlich fundiert und gestützt auf eine kaum übersehbare, aber von ihm meisterhaft beherrschten Literaturbasis, zugleich aber immer wieder aus der Perspektive der Opfer, deren Zeugnisse ernst und wörtlich genommen, das heißt ausführlich und mit Empathie wiedergegeben werden. Saul Friedländer verbindet Geschichte und Erinnerung und weiß, daß und wie man über einen »Massenmord« schreibt. Die deutschen Historiker wissen es jetzt und können von diesem Meisterwerk viel lernen. Hoffentlich tun sie es auch.
saul friedländer: die jahre der
vernichtung. das dritte reich
und die juden 1939-1945.
Verlag C. H. Beck, München 2006; 864 S., 34,90 €