Zehn Jahre Seniorenwohnen, das müssen wir feiern», schlug Bronya Dytyatkovska kürzlich beim Seniorenfrühstück vor. Die übrigen Damen und Herren stimmten sogleich zu. Mitten im Herzen Stuttgarts hatte die Israelitische Religionsgemeinschaft Württemberg (IRGW) vor einem Jahrzehnt auf dem Gelände ihres Gemeindezentrums ein Haus mit 18 Appartements gebaut. Sie bestehen aus zwei bis drei Räumen, Küche, Dusche, WC, Balkon oder Terrasse sowie einem Keller. Im Untergeschoss kann ein Pflegebad benutzt werden. Alle Etagen sind per Fahrstuhl erreichbar. Eine Wohnung ist rollstuhlgerecht ausgestattet.
Ausstattung Derzeit sind alle Appartements bewohnt. 18 Frauen und sechs Männer leben hier. Die Jüngste ist 68 Jahre alt, die Älteste 96. Manche leben völlig selbstständig, andere benötigen die Hilfe mobiler Pflegedienste. Bronya Dytyatkovska ist erst 80 und noch rüstig. Doch die Wohnungsklingel holt sie völlig unvorbereitet aus der kleinen Küche. «Kommen Sie herein, setzen Sie sich», lädt sie ihre Überraschungsgäste ins Wohnzimmer. Flink rettet die 80-Jährige den Borschtsch, der auf der Herdplatte blubbert, vor dem Anbrennen. Der traditionelle russische Eintopf gehört zu den Lieblingsgerichten der ge-
bürtigen Ukrainerin, und natürlich kocht sie ihn selbst. «Mit der U-Bahn fahre ich zum russischen Laden, dort kaufe ich Ge-
müse, Fisch, Kascha und was ich so brauche», erzählt Dytyatkovska in verständlichem, von russischem und jiddischem Ak-
zent gefärbten Deutsch. Dann fasst sie mit den Händen an ihren Bauch, der tut immer weh, sie ist Diabetikerin und die Beine wollen auch nicht mehr. So ist sie immer mit einem Gehwägelchen unterwegs. «Aber im Haus hier fühle ich mich wohl.»
Vor 15 Jahren ist die Kiewerin nach Deutschland eingewandert, ihrem Sohn Igor nachgereist. Fünf Jahre lebte die frühere Industrienäherin in Esslingen. Am 1. Oktober 1999 zog sie als eine der ersten Bewohnerinnen ins Betreute Seniorenwohnen. Zwei Zimmer, Bad und Küche nennt sie auf Zeit ihr Eigen. Ein kleiner Balkon mit Blick ins Grüne ist auch dabei.
«Das ist der Hof von der Schule, die Kinder stören mich nicht, die hab ich lieb», sagt sie. Zum Seniorenfrühstück geht sie regelmäßig, in die Synagoge selten. «Bei uns war der jüdische Glauben verboten, von einer Synagoge hab’ ich nicht gewusst, ich war im Komsomol», erzählt sie. Nun verbringt Bronya Dytyatkovska ihre Tage mit Alltäglichem, hält regelmäßig Kontakt zu Sohn Igor, schaut das Nachmittagsprogramm im deutschen Fernsehen und liest Romane in russischer Sprache. Wenn sie von ihren Vorlieben erzählt, werden ihre Gesichtszüge immer weicher und jünger.
Eigenständigkeit «So viel Freiheit wie möglich, so viel Hilfe wie nötig heisst das Konzept des Betreuten Seniorenwohnens. Es folgt der offiziellen Sozialgesetzgebung: «ambulant vor stationär», sagt Dagmar Bluthardt. Die Erziehungswissenschaftlerin ist zuständig für die Betreuung der Bewohner. Dass dieses Modell im Alltag seine Tücken hat, weiß sie, wissen auch ihre anderen Kollegen von der Sozialabteilung der IRGW. «Obwohl zu den Aufnahmekriterien eine relative Rüstigkeit, also Eigenständigkeit gehört, zeigt sich doch im Laufe der Jahre, dass mehr Bewohner als geplant eine regelmäßige Betreuung brauchen. Nicht immer reicht der Notfallknopf in den Wohnungen, mit denen ein Rettungsdienst angefordert werden kann», sagt Werner Meier, der Leiter der Sozialabteilung der IRGW. Mobile Pflegedienste, auch eine jüdische Ärztin unterstützen die Bewohner bis zur Pflegestufe drei.
Warteliste «Ein Pflegeheim nur für jüdische Bewohner lohnt sich nicht, die Zuwandererzahlen sinken in Baden-Württemberg», sagt Meier. Nichtjuden wohnen bisher nicht hier. Weil die Stadt Stuttgart das Projekt finanziell fördert, muss das Haus für alte Menschen aller Glaubensrichtungen offen sein. Doch die Warteliste ist so lang, dass bisher nur Mitglieder der Gemeinde eingezogen sind. Wichtigstes Aufnahmekriterium bleibt der Grad der Gebrechlichkeit. Das aber widerspricht dem Tenor des Betreuten Seniorenwohnens. «Eigentlich war bei der Konzeption an rüstige Senioren gedacht, die alle Vorteile im Haus nutzen können: die Bibliothek, die kulturellen Veranstaltungen, das Miteinander von Jung und Alt, die Synagoge, der Seniorenclub», sagt Dagmar Bluthardt.
Da hat es auch Alena Sobol nicht ganz leicht. Die Sozialarbeiterin gestaltet den Nachmittage im Seniorenklub. «Wir erzählen vom jüdischen Stuttgart oder Videovorführungen. Der schlimmste Gedanke vieler alter Gemeindemitglieder ist, wohin sie gehen sollen, wenn sie hier im Haus nicht bleiben können», sagt Dagmar Bluthardt.
«Wie viele Jahre mir Gott noch geben wird, das weiß ich nicht», sagt Iryna Dytyatkovska. Aber eines weiss sie: «Ich werd’ dahin gehen, wohin alle gehen, auf den jüdischen Friedhof von Stuttgart-Steinhaldenfeld.» Bis dahin wünscht sie sich, dass «alle Menschen sollen haben Gesundheit und Arbeit und keinen Krieg.»