von Veronika Wengert
In der historischen Altstadt von Sibiu/Hermannstadt gibt es derzeit wohl kaum eine Gasse, in der es nicht nach frischem Asphalt oder Fassadenfarbe riecht. Die Stadt im rumänischen Siebenbürgen, die deutsche Siedler von Rhein und Mosel im 12. Jahrhundert gegründet hatten, bereitet sich gerade mit ganzer Kraft auf das kommende Jahr vor: Ab Januar teilt sich Sibiu den Titel »Europäische Kulturhauptstadt 2007« mit Luxemburg. Bis heute ist die Stadt mit ihren 170.000 Einwohnern offiziell zweisprachig, auch wenn der Anteil der deutschen Bevölkerung inzwischen auf unter ein Prozent gesunken ist.
Das Großereignis geht auch an der dortigen jüdischen Gemeinde nicht spurlos vorüber: Ein virtuelles Erinnerungsprojekt soll das Leben der Juden in Mitteleuropa aufzeigen. Beim Kulturfestival »Euroiudaica« organisiert die Dachvereinigung der jüdischen Gemeinden in Rumänien fünf Tage lang Konzerte, Tanz-, Film- und Theateraufführungen. Und eine Ausstellung, die die Israelische Botschaft in Bukarest unterstützt, präsentiert die Werke jüdischer Maler aus Rumänien. Außerdem habe man nun Mittel bekommen, um die Synagoge zu sanieren, sagt Otto Deutsch. Der 72jährige Vorsitzende der jüdischen Gemeinde zeigt auf die Fassade des roten Backsteingebäudes, von der stellenweise Putz bröckelt. Bei Regen laufe Wasser durch das undichte Dach, erklärt Deutsch. Seit der Fertigstellung der Synagoge vor 107 Jahren sei hier kaum mehr Hand angelegt worden.
Im Innenraum verbinden dicke Spinnweben die Messingleuchter miteinander. Fünf Jahre sei es mindestens her, seit hier der letzte Gottesdienst stattgefunden habe. Vielleicht auch sechs. Man wolle das Gebäude zu einem Museum umfunktionieren, denn ohnehin seien es nur Touristen und Schulklassen, die hierherkommen würden, sagt der Vorsitzende. Er klingt dabei fast ein wenig entschuldigend. 32 Gemeindemitglieder sind es offiziell noch, mit Ehepartnern fast doppelt so viele. Die allermeisten haben das Rentenalter schon längst erreicht, der Tora-Vorleser ist bereits über 80 Jahre alt. Entsprechend sei es für ihn leichter, erklärt Deutsch, das Schabbatgebet in einem kleinen Raum abzuhalten, in dem er nicht so laut sprechen müsse.
Dieser befindet sich im winzigen Gemeindehaus, im Garten der Synagoge: Einige Tische, auf denen Kippot liegen, ein Toraschrein in der Ecke. Nebenan ein Bürozimmer mit zwei wuchtigen Schreibmaschinen, Buchvitrinen, einem alten Transistorradio, einem Fernsehgerät. Und jeden Schabbat die gleiche bange Frage: Werden es diesmal zehn Männer zum Gebet sein? An Feiertagen schicke mal schon mal ein Taxi oder Privatauto, um die älteren Gemeindemitglieder abzuholen, berichtet Deutsch. Ansonsten müsse man als solch kleine Gemeinschaft eben Kompromisse eingehen.
Eine typische Gemeinde sei man keinesfalls. Das jüdische Leben in Rumänien spiele sich anderswo ab, sagt Deutsch. In Arad oder Temesvar, im Westen des Landes, wo es jüdische Altersheime gäbe. In Iasi, im Nordosten Rumäniens, wo alljährlich das jiddische Theaterfestival stattfinde. Oder in Brasov, wo man koscheres Fleisch bestelle. Und natürlich in Bukarest. In der Hauptstadt leben die beiden einzigen Rabbiner des Landes und die Hälfte der fast 12.000 rumänischen Juden. Dort gebe es Chöre, eine jüdische Schule, eine eigene Zeitung, ein Verlagshaus und koschere Läden, aus denen man Cognac, Wein und Mazzen nach Hermannstadt geliefert bekomme, zählt Deutsch auf. Aus Bukarest verschickt werden auch die Hilfspakete für bedürftige Juden, die Medizin und Lebensmittel enthalten. Doch die Hauptstadt sei weit und anstrengend – sechs Stunden dauere die Zugfahrt, die sich viele finanziell nicht leisten können. Um dennoch informiert zu bleiben, bekomme man von der jüdischen Gemeinde Bukarest regelmäßig Videokassetten geschickt, auf denen wichtige Besuche oder Festtage aufgezeichnet seien, erzählt Deutsch.
Früher sah das jüdische Leben in Sibiu noch anders aus: Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg kehrten 2.000 Juden in die Stadt zurück, viele davon aus sowjetischen Lagern. Sie sprachen rumänisch, deutsch oder ungarisch, da Siebenbürgen einst zum ungarischen Teil der Habsburger Doppelmonarchie gehörte. Dann setzte die Alija nach Israel ein, manche wanderten auch nach Australien oder Amerika aus, so wie Sohn und Tochter der Familie Deutsch. Entsprechend fehlt die jüngere und mittlere Generation. Eine jüdische Hochzeit in Sibiu? Otto Deutsch schüttelt den Kopf. Fehlanzeige. Das habe er in den gesamten 45 Jahren, seit er aus Bukarest hergezogen sei, noch nicht erlebt.
Und die Zukunft der Gemeinde? Nun meldet sich auch Otto Deutschs Ehefrau Clodette zu Wort, die stundenweise eine Kinderarztpraxis betreibt. In naher Zukunft werde sich sicher nichts ändern, trotz EU-Beitritt. »Was soll sich im Leben von alten Menschen schon wesentlich verändern?« Sie verweist auf die Nachbargemeinde in Sighisoara, das deutsche Siedler einst Schäßburg nannten. Dort lebe heute nur noch ein einziger Jude, der weit über 90 Jahre alt sei und die dortige Synagoge hüte. Und genauso sehe vermutlich auch das Schicksal von Hermannstadt aus, sagt Deutsch.