von Beni Frenkel
Mühsam quält sich der Bus die engen Bergstraßen im Tessin empor. Vorbei an schneebehangenen Palmen, verlassenen Gebäuden und zahlreichen Marienstatuen. Alte Frauen steigen an diesem kalten Sonntag zu und sitzen stumm hinter dem Fahrer. Der scheint die gefährliche Strecke in- und auswendig zu kennen. Eine rasante Fahrt beginnt. Die Dörfer werden kleiner, die Schluchten tiefer. Nach einer halben Stunde hält der Bus im kleinen Dörfchen Dangio Paese vor einer ehemaligen Fabrik, in der offenkundig schon lange nicht mehr das passiert, wofür sie einst gebaut wurde: Vor Jahren wurde hier Schokolade hergestellt. Es war das größte Unternehmen dieser Art in der Schweiz. Davon ist nur der morbide Charme längst vergangener Zeiten geblieben. Vor dem Eingang stehen ein paar Jungs, rauchen Zigaretten und mustern den Besucher mit kritischen Blicken.
Wer die zerfallende Fabrikruine in dieser gottverlassenen Gegend betritt, erlebt eine Überraschung: Man steht plötzlich in einer kleinen Synagoge. Jugendliche in Jeans und langen Zizis beugen sich über den Talmud und murmeln Verse. Draußen Totenstille. Die Szenerie in der Jeschiwa wirkt surrealistisch. Die Jugendlichen halten inne. Der Rabbiner ist gekommen. Er trägt einen schwarzen Mantel und einen langen, grau melierten Bart. In der Hand hält er ein Handy, Kleingeld und Manuskripte. Er ist, das wird rasch klar, auf den Besuch vorbereitet.
Stolz zeigt Rabbiner Avraham Novick die Zimmer der Studenten. An den Türen hängen Mesusot und an den Wänden Poster von schwarzen Hip-Hoppern. Das riesige Areal hat Dutzende Zimmer, einzelne Scheiben sind eingeschlagen. Es ist kalt. »Wir heizen nur tagsüber«, sagt Novick. »Wir haben kein Geld, um auch in der Nacht die Öfen anzumachen.« Der Rabbiner streicht sich über den Bart. Vor zehn Jahren ist er in die Schweiz gekommen, um in den Bergen orthodoxen Teenagern einen Neuanfang zu ermöglichen. In den USA hat er gesehen, wie das umfangreiche Pflichtenheft einer religiösen Jeschiwa viele Jugendliche überfordert. Zehn Stunden Lernen, keine Ablenkung und pünktliches Erscheinen zu den drei Gebetszeiten – das war vor 100 Jahren nur für die Eifrigsten gedacht.
Weiter im Rundgang. Das Sitzungszimmer: ein abgewetzter Teppich, zwei alte Sessel. An der Wand steht ein alter Bücherschrank. »In dieser Jeschiwa müssen meine Schüler nichts lernen, sie dürfen es.« Am Morgen Sport, am Nachmittag freiwilliges Studium. Es klopft. Ein Junge bringt Kaffee. In der Tasse schwimmt das noch nicht aufgelöste Pulver. Genauso schmeckt es. Das Lebensprojekt von Rabbiner Novick scheint an den Finanzen zu scheitern. Auch die Jugendlichen haben das mitbekommen. Sie wirken gedrückt. Ihr letztes Auffangnetz hat Löcher bekommen. Am Morgen standen sie noch auf Snowboards, nun bitten sie den Rabbiner um Geld. Sie müssen Zwiebeln kaufen. Und das Toilettenpapier gehe langsam zur Neige, sagen sie. Auch für die gebührenpflichtigen Abfallsäcke sei nichts mehr in der Kasse.
Alles ziemlich unerfreulich. Doch die Jugendlichen haben schon Schlimmeres erlebt. Einer erzählt von seiner Odyssee durch die verschiedenen Jeschiwot in Amerika. Prügeleien, Drogen und tagelanges Fernbleiben vom Lernen haben schnell zur Exmatrikulation geführt. In der nichtjüdischen Gesellschaft gibt es für solche Fälle Heime für Schwererziehbare. Aber nicht in der jü- dischen Orthodoxie. Man will nicht zugeben, dass auch Moischi, Janki und Jossi richtige Jungs sein können. Und die Exmatrikulation schwebt wie ein Damoklesschwert über den religiösen Schülern. Die Erziehungsstrategie der jüdischen Orthodoxie scheint bei unangepassten Jugendlichen zu versa- gen. Ein Junge erzählt von langen Nächten in Psychiatrie-Anstalten, weil der Vater nicht mehr weiter wusste. Ein anderer berichtet vom Tod seines Vaters, wie er aggressiv geworden sei und die Leitung der Jeschiwa ihn rausgeschmissen habe. Die Selbstachtung, sie kam abhanden. Beifälliges Nicken der Mitschüler. Ein Rausschmiss drei Jahre vor dem heiratsfähigen Alter ist in religiösen Kreisen nicht mehr wettzumachen. Einer trug sich sogar mit Selbstmordgedanken. Bis er von New York ins kleine Dörfchen Dangio kam.
Hier hat Rabbiner Avraham Novick seine Jeschiwa aufgebaut, die wohl ihresgleichen sucht. In der Abgeschiedenheit der Schweizer Alpen, wo der Bus nur einmal die Stunde vorbeifährt, sollen die Jugendlichen neuen Lebensmut tanken. Und ist auch alles freiwillig, so hat der Rabbiner doch drei Regeln aufgestellt: keine Drogen, keine Lügen, keine Mädchen. Auf die Einhaltung der Vorgaben wird minutiös geachtet. Die Besitzerin der einzigen Dorfkneipe darf keinem der Jeschiwa-Schüler Alkohol ausschen- ken. Wenn der Busfahrer einen der Jungen mit in die nächstgrößere Stadt nehmen soll, wird das dem Rabbiner gemeldet. Konsequenz: Internet-Entzug für mehrere Wochen, die einzige Verbindung zur Außenwelt. Doch auch da gibt es Grenzen: Zum Beispiel ist der Besuch von Porno-Seiten streng verboten. Ansonsten ist es den Jugendlichen freigestellt, wie sie ihren Tag planen. An diesem Nachmittag sitzen ein paar im Bethaus und büffeln für ihren High-School-Abschluss. Andere lernen den Talmud.
Hier, in der Abgeschiedenheit der Schweizer Bergwelt, erhalten die Jungen zum ersten Mal in ihrem Leben, was sie lange vermissten: Anerkennung. Die täglichen Sportausflüge fördern das lange Zeit verschütt gegangene Selbstwertgefühl. Sie entwickeln zum ersten Mal in ihrem Leben Stolz. Einer der weltbesten Snowboard-Cracks gibt den 24 Schülern, die vorwiegend aus den USA kommen, Einzelunterricht. Ein Jiu-Jitsu-Samurai hat Tipps für den
Kampfsport. Auch im Kraftraum sind klare Anweisungen für die Schmalbrüstigen gefragt. Klettertouren mit beträchtlichem Schwierigkeitsgrad schweißen die Jugendlichen zusammen. Zusammenhalt ist ein wichtiges Ziel von Rabbiner Novick. »Am Abend muss immer einer der Schüler einen fünfminütigen Vortrag zum Thema ›Liebe deinen Nächsten wie dich selbst‹ halten.« Und es funktioniert. Hartgesottene Einzelgänger werden in die Pflicht genommen. Frühstück, Mittagessen und Abendbrot müssen gemeinsam organisiert werden. Bis hin zum Einkauf und Abwasch.
Und: hilft es? »90 Prozent der Abgänger bleiben religiös«, sagt Rabbiner Novick stolz. »Viele holen das High-School-Diplom nach und gehen gestärkt wieder zurück.« Ist seine Jeschiwa ein Menetekel des orthodoxen Bildungssystems? Sind die heutigen Jeschiwot zu starr für Abweichler? Rabbiner Novick steht in der kleinen Synagoge vor einem fleckigen Toravorhang. Er will nicht urteilen, sondern lieber für seine Jeschiwa kämpfen. Die Schulden nehmen ihm und seinem Projekt die Luft. Der Besucher bietet ihm 50 Franken an. Rabbiner Novick zögert nicht und steckt das Geld in seine Jackentasche.