von Ingo Way
Was das britische Wissenschaftssystem vom deutschen unterscheidet, ist die Durchlässigkeit der Fächergrenzen, die es auch Fachfremden, Außenseitern, gar Exzentrikern gestattet, als Quereinsteiger in Bereichen zu reüssieren, für die sie gar nicht die formalen Zugangsqualifikationen mitbringen. An einer bundesdeutschen Universität wäre es undenkbar, dass eine begabte Philosophiestudentin im Büro eines Professors für Neurobiologie vorspricht und ihn allein durch ihr Interesse und ihren Enthusiasmus davon überzeugt, sie an seinem Lehrstuhl promovieren zu lassen.
Genau dies hat Susan Greenfield getan. Mit Erfolg. Anfang der 70er-Jahre bedrängte die junge Studentin den Oxforder Biochemiker David Smith, ihr alles über das Gehirn und das Bewusstsein beizubringen. Die Antworten der Philosophie erschienen ihr unbefriedigend, rein spekulativ. Sie wollte es genauer wissen. Smith nahm die Geisteswissenschaftlerin in sein Doktorandenprogramm auf, die naturwissenschaftlichen Grundlagen eignete sie sich im Selbststudium an.
Seitdem ging es für Greenfield steil bergauf. Heute ist sie Professorin für Physiologie in Oxford und hat mit ihren Forschungen zum Enzym Acetylcholinesterase (AChE), das bei Hirnerkrankungen wie Alzheimer oder Parkinson eine Rolle spielt, Grundlagen zur Bekämpfung dieser Krankheiten geliefert. Sie ist seit 1998 die erste weibliche Direktorin der ehrwürdigen Royal Institution, die sich der Verbreitung wissenschaftlicher Erkenntnisse widmet, und seit 2001 »lifelong peer« im britischen Oberhaus als Baroness Greenfield of Otmoor. Sie erhielt den Orden der französischen Ehrenlegion, gründete vier Start-up-Unternehmen im Biotech-Bereich und schrieb knapp 200 Fachaufsätze sowie neun Bestseller über das Gehirn, von denen bisher nur eines in deutscher Sprache vorliegt, der Reiseführer Gehirn. Ihr Anliegen ist es, komplizierte wissenschaftliche Sachverhalte in allgemeinverständlicher Form zu erklären. Dies tut sie in zahlreichen Fernseh- und Rundfunkvorträgen für die BBC. »Unsere Arbeit wird vom Steuerzahler finanziert«, sagt Greenfield. »Wir müssen ihm auch erklären, was wir tun.« Und Ende vergangenen Jahres eröffnete sie die Europäische Futuristenkonferenz in Luzern. Dort warnte sie vor dem schädlichen Einfluss übermäßigen Internetkonsums auf die Gehirne von Kindern.
Greenfield selbst hat in ihrer Kindheit vor allem gelesen. 1950 in Chiswick, westlich von London, als Tochter einer protestantischen Tänzerin und eines jüdischen Elektrikers geboren, war Greenfield schon als Schülerin hochbegabt. Die Arbeiterklasse legte damals noch Wert auf Bildung. Greenfield konnte in Oxford studieren, verbrachte einige Semester in Paris und arbeitete eine Zeit lang in einem israelischen Kibbuz. Zwar säkular erzogen, trug sie in ihrer Jugend zeitweilig ein Kruzifix und einen Davidstern um den Hals –
für alle Fälle.
Vor Kurzem gründete Greenfield in Oxford das Centre for the Science of the Mind. Von der (religiösen) Templeton Foundation privat gefördert, erforschen dort Ärzte, Neurowissenschaftler, Theologen, Psychologen und Philosophen den Einfluss des Glaubens auf das Gehirn.
Die deutsche Psychologin Katja Wiech, die einen Teil des Forschungsprojekts geleitet hat, erklärt, worum es dabei
ging. Zwei Gruppen von Studenten – gläubige Katholiken und dezidierte Atheisten – wurden leichte Schmerzen zugefügt, gleichzeitig zeigte man ihnen eine Zeichnung der Jungfrau Maria. Und siehe da: Eine Messung der Hirnströme ergab, dass die katholischen Studenten beim Anblick der »Mutter Gottes«
tatsächlich weniger Schmerzen verspürten als die ungläubigen. Zeigte man ein »säkulares« Vergleichsbild – ein Gemälde Leonardo da Vincis –, gab es keine Unterschiede zwischen den beiden Gruppen. Die mögliche Erklärung: Religiöse Menschen lernen, sich von unangenehmen Situationen zu distanzieren und Schmerzen zu beherrschen, indem sie die Kontrolle an eine vermeintlich höhere Macht abgeben. Dadurch entstünden organische Veränderungen in der Hirnstruktur. Ein katholisches Gehirn sieht also anders aus als ein atheistisches. Die Studie wurde nur mit Katholiken durchgeführt, erklärt Wiech, weil man nicht wusste, welche Symbole man Angehörigen anderer Konfessionen hätte vorsetzen können, die eine ähnliche emotionale Reaktion hervorrufen wie die Mutter Jesu bei Katholiken. Ob es Unterschiede zwischen jüdischen, christlichen, moslemischen, hinduistischen Gehirnen gibt, harrt also weiterhin der Aufklärung.
Obwohl Wiech betont, dass derartige Studien nicht den Zweck verfolgen, den Geltungsanspruch der Religion zu bestreiten, indem man sie auf Hirnströme reduziert – das wird Greenfield und ihren Mitarbeitern explizit vorgeworfen –, bleiben sie ein Politikum: zeigen sie doch, dass der Hang religiöser Fundamentalisten zum Märtyrertum mit der gezielten Kontrolle von Schmerzen zu tun haben könnte. Eine potenzielle Gefahr, die in der Religion liegt, wäre damit benannt.
Gegen religiösen und sonstigen Fundamentalismus hilft für Susan Greenfield nur eines: die Stärkung des Individuums, seiner Autonomie und seines privaten Bereichs. Genetischen Determinismus lehnt sie ab, betont stets die Freiheit des Einzelnen: »Bestimmte menschliche Eigenschaften auf bestimmte Hirnregionen oder Gene zu reduzieren, das ist sehr gefährlich.«
Greenfield selbst lebt diesen Individualismus vor – eine wiederum sehr britische Angelegenheit. Denn sie verleiht der Wissenschaft Glamour, womit sie für britische Boulevardzeitungen als »Vamp der Wissenschaft« gilt, weil sie sich schminkt, Armani-Kleider trägt und sich für Hochglanzmagazine ablichten lässt. Zwölf Jahre lang war sie mit dem Chemieprofessor und Millionär Peter Atkins verheiratet. Die beiden galten als die »Beckhams der Wissenschaft«, bis sie sich 2003 trennten.
Anerkennung erfährt Greenfield gleichwohl genug. Nur die Royal Society, die Vereinigung hochrangiger Wissenschaftler, weigert sich bis heute, sie aufzunehmen. Dahinter eine Diskriminierung ihres Geschlechts zu vermuten, dazu ist die vielbeschäftigte Wissenschaftlerin Greenfield zu selbstbewusst. »Ich bin denen einfach zu schräg«, sagt sie mit aristokratischer Gelassenheit.
Nur eines brachte sie vor ein paar Jahren auf die Palme: als einige britische Universitäten auf den Vorschlag verfielen, israelische Wissenschaftler wegen angeblicher Menschenrechtsverletzungen Israels zu boykottieren. Eine »Schande« nannte Greenfield das. Wie in ihren wissen- schaftlichen Vorträgen, fand sie auch hier klare Worte.