Assimilation

Schlaflos in Budapest

von Constanze Baumgart

Die Familie von Bratmann lebt auf der Sonnenseite des ungarisch-jüdischen Lebens der vorigen Jahrhundertwende. Die Eltern Berta und Áron, wohlhabend und assimiliert, liberal in religiöser wie in pädagogischer Hinsicht, können ihren beiden Töchtern ein sorgloses und umsorgtes Dasein ermöglichen. Die temperamentvolle, rotgelockte Rahel steht dabei im Vordergrund: Jung und hübsch, mit Charisma und Intelligenz, gibt ihr jeder den Vorzug vor ihrer weniger ansehnlichen und verschlossenen Halbschwester Sára.
Rahel, genannt Raschi, lernt den Jurastudenten und Kunstmaler Guszti kennen und lieben. Eigentlich hatte der ihre schöne Mutter erobern wollen, doch, nachdem das gescheitert war, sich von der schönen, selbstbewussten Tochter fesseln lassen. Guszti stammt aus einer christlichen Familie, die, wenn auch immer noch wohlhabend, doch auf dem absteigenden Ast ist. Den »soliden Antisemitismus« seiner Eltern hat sich der Sohn nicht zu eigen gemacht: Er fühlt sich wohl bei den von Bratmann, heiratet Rahel und geht mit ihr in die USA.
Ginge es in Lea Polgárs Roman nur um Guszti und Raschi, das Buch wäre lediglich eine hübsch erzählte Liebes- und Familiengeschichte. Doch Die zwei Welten der Rahel Bratmann ist auch die im historischen Nachhinein tragische Geschichte einer vermeintlich geglückten Assimilation. »Wir können uns nicht für immer ausgrenzen! Die Diaspora muss hier endlich Wurzeln schlagen, « ist Áron von Bratmanns Credo. Wie wenig fest diese Wurzeln in ungarischer Erde wirklich stecken, spürt nur Sára. »Sie lebten in einem Naturzustand ohne Selbstbewusstsein, aber glücklich. Sie glaubten, es gäbe nie ein Ende. Doch jetzt ist es Zeit zu erwachen. Nie wieder werden sie ruhig schlafen können. Meine Eltern haben immer noch nicht gemerkt, daß ihre große Epoche vergangen ist. Ihre Tragik liegt darin, dass das Ende sie völlig unerwartet ereilen wird.«
Sára ist die eigentliche Heldin des Buches. Während der deutsche Romantitel die sinnliche und weltliche Rahel in den Mittelpunkt rückt, fokussiert der ungarische Originaltitel, der übersetzt »Schlaflosigkeit« heißt, auf die ältere, unglücklichere Schwester. Sára stammt aus Berta von Bratmanns gescheiterter erster Ehe mit einem orthodoxen Juden. Mit ihrer wund gescheuerten Seele hat Sára sich zurückgezogen in eine von Selbsthass geprägte Innerlichkeit. Die chronisch Schlaflose schreibt die Geschehnisse um sich herum akribisch auf. Bewusst grenzt sie sich von den anderen Familienmitgliedern ab, indem sie an dem orthodoxen Glauben ihres Vaters festhält.
Vier Jahre später, am Ende der Geschichte, hat Sará jedoch ihr Schneckenhaus verlassen und führt eine glückliche Ehe mit einem strenggläubigen Juden. Ihre Schwester Rahel wird mit ihren beiden Kindern aus den USA zurückkehren – ihre Ehe mit Guszti ist, der Leser erfährt es beiläufig, gescheitert.
Der ungarischen Autorin Lea Polgár (Jahrgang 1974) ist mit ihrem Erstling ein vielschichtiger, atmosphärisch reicher Roman gelungen. Spannend entwickelt sie den Gang der Ereignisse, der auf die Auflösung des großen Lebensgeheimisses von Rahels Mutter zuläuft. Kleine, kunstvoll eingewobene Episoden am Rande kommentieren die große Handlung. Bei so vielen Vorzügen verzeiht man, dass die Figur des Guszti etwas zu blass, die von Rahel etwas zu glatt geraten ist. Der Autorin ging es hier wohl eher darum, »Typen« in Szene zu setzen als Individuen lebendig werden zu lassen. Raschis Geschichte und die ihrer Schwester Sará sind vor allem Lea Polgárs Kommentar zum Jahrhundertthema Assimilation in der Diaspora. Der Ausgang des Buchs lässt keinen Zweifel daran, welche Meinung die Autorin dazu hat.

lea polgár: die zwei welten der rahel bratmann
Übersetzt von Susanne Simor
C. H. Beck, München 2006, 291 S., 18,90 €

Mainz

Weißer Ring: Jüdisches Leben auf dem Rückzug

Barbara Richstein, die neue Bundesvorsitzende der Organisation, fordert ein klares Eintreten gegen Judenhass

 15.01.2025

Berlin

Weltweiter Antisemitismus alarmiert Bundesbeauftragten Klein

Negative Stereotype über Juden sind einer Befragung zufolge weltweit so verbreitet wie nie

 15.01.2025

Bundestagswahl

Russlands Außenminister Lawrow lobt AfD und BSW

Es gebe in ihren Äußerungen »viel Vernünftiges«

 14.01.2025

Helsinki

Scholz: Leben der Geiseln muss oberste Priorität haben

Über die Verhandlungen um eine Waffenruhe im Gazastreifen heißt es, ein Abkommen sei greifbar. Der Bundeskanzler hofft auf einen Abschluss

 14.01.2025

Karlsruhe

Verdacht der Volksverhetzung: Polizei ermittelt gegen AfD

Es geht um ein in sozialen Netzwerken gepostetes »Abschiebeticket«. Die zumindest in Teilen rechtsextremistische Partei überschreitet immer wieder Grenzen

 14.01.2025

Vatikan

Papst verurteilt Massaker der Hamas und kritisiert Israel

Regelmäßig steht der Papst in der Kritik, er habe den Terrorangriff der Hamas auf Israel nicht klar genug verurteilt. In seinem neuen Buch tut er genau das, wirft aber auch Israel vor, Terror zu produzieren

von Severina Bartonitschek  14.01.2025

TV

Handgefertigte Erinnerung: Arte widmet Stolpersteinen eine Doku

Mehr als 100.000 Stolpersteine erinnern in 30 Ländern Europas an das Schicksal verfolgter Menschen im Zweiten Weltkrieg. Mit Entstehung und Zukunft des Kunstprojektes sowie dessen Hürden befasst sich ein Dokumentarfilm

von Wolfgang Wittenburg  13.01.2025

Marburg

»Biodeutsch« ist »Unwort des Jahres« 2024

Diskriminierend und »eine Form von Alltagsrassismus«: So stuft die Jury den Begriff ein, wenn er wörtlich verwendet wird. Zum »persönlichen Unwort« der Mitglieder Cheema und Mendel wurde »importierter Antisemitismus«

 13.01.2025

Riesa

Massive Proteste gegen AfD-Bundesparteitag 

Mehrere tausend Menschen sind seit dem frühen Samstagmorgen in der sächsischen Stadt gegen den AfD-Bundesparteitag auf die Straße gegangen

 11.01.2025