von Rabbi Carl M. Perkins
Zu Beginn des dritten Monats nach dem Auszug aus Ägypten kamen die Israeliten in der Wüste Sinai an, und am sechsten Tag dieses Monats, einem Tag voller Blitz und Donner, empfing Moses die Zehn Gebote. Dann blieb Moses, so heißt es in der Tora, vierzig Tage oben auf dem Berg und empfing die übrigen Toragesetze.
Dieses Ereignis stellte den Glauben und die Treue des Volkes auf eine harte Probe. Zu dem Zeitpunkt, an dem Moses wieder herabstieg, war es zu spät. Sie beteten das Goldene Kalb an, ignorierten alles, was ihnen geheißen worden war, oder handelten ihm sogar zuwider. Jene wundervollen Tafeln mit den Gesetzen, die in den vorangegangenen vierzig Tagen sorgfältig darauf niedergeschrieben worden waren, jenes wundervolle Zeichen der Liebe Gottes zu seinem Volk, fielen zu Boden und zersprangen in tausend Stücke.
Darauf folgte eine sehr unschöne Szene, mit vielen Vorwürfen, aber auch mit der Bitte um Verzeihung, um Versöhnung von Mose und dem Volk. Allmählich ließ Gott sich erweichen. Er widerstand dem Drang, das Volk auszulöschen, und stimmte einem neuen Bund mit ihm zu. Er ließ Moses ein zweites Mal hinaufsteigen und diktierte ihm die Tora noch einmal. Interessanterweise machte sich Gott, so erfahren wir, beim ersten Mal die Tafeln selbst und beschrieb sie auch eigenhändig (2. Buch Moses 32,16). Beim zweiten Mal befahl Gott Moses, er solle sich die Tafeln selbst zurechthauen (2. Buch Moses 34,1). Und wenigstens ein Vers legt nahe, daß Er es Moses auch beim zweiten Mal überließ, sie zu beschriften (2. Buch Moses 34,28).
Nach vierzig Tagen stieg Moses ein zweites Mal herab mit dem zweiten Paar der Gesetzestafeln in den Armen. Laut dem Midrasch geschah das an Jom Kippur, dem Versöhnungstag. Es war ein wahrhaft kosmischer Tag der Versöhnung zwischen Gott und Israel.
Dann passierte etwas Interessantes. Als Moses die neuen Gesetzestafeln zur Verwahrung in die Bundeslade legte, tat er dem Midrasch zufolge noch etwas anderes: Er ging herum und las all die kleinen Stücke auf, alle Splitter der ersten Tafeln, und legte sie ebenso in die Bundeslade.
Also verwahrten die Kinder Israels laut dem Midrasch in der Bundeslade im Mittelpunkt ihres Zeltlagers nicht nur die zweite, vollständige Ausgabe der Gesetzestafeln, sondern auch die Fragmente jener früheren Ausgabe. Und sie führten sie auf ihrer Reise durch die Wüste die ganze Zeit mit sich.
Etwas Eigenartiges geschah hier, das nicht unmittelbar einleuchtet. Dem Volk war dabei wahrscheinlich nicht gerade wohl zumute. Was ihnen die Splitter auch bedeutet haben mögen, es wäre für die Leute ein Leichtes gewesen, sie zurückzulassen, als sie aufbrachen. Doch genau das haben sie nicht getan.
Es ist nicht einfach, einen Teil unseres Selbst oder unserer Erfahrung, den wir gern hinter uns ließen, mitzunehmen. Instinktiv wollen wir ihn aus unserem Blickfeld verbannen. Wir wollen versuchen zu vergessen. Doch diese Geschichte lehrt uns, daß wir nicht vergessen dürfen, wenn wir unser Ziel zu erreichen hoffen.
An diesem Tag, an dem wir lernen, daß Veränderung möglich ist, lernen wir auch, wie wichtig es ist, uns an unsere Vergangenheit zu erinnern, uns zu erinnern, wer wir waren und wer wir sind, um zu bestimmen, wer wir sein werden.
Das Wort »Sünde« wird nicht mehr oft gebraucht. Das einzig Sündige, heißt es heutzutage, sei Käsesahnetorte. Doch wir sündigen. Dem müssen wir uns stellen. Es gibt Zeiten, wo wir das tun, was wir als richtig erkannt haben; und es gibt Zeiten, wo wir, sei es aus Gedankenlosigkeit oder absichtlich, das tun, von dem wir wissen, daß es falsch ist. Es gibt Zeiten, in denen wir uns für unser Verhalten schämen, uns jedenfalls schämen sollten. Statt von uns zu verlangen, uns in Schuldgefühlen zu wälzen, hält das Judentum – trotz der zahlreichen gegenteiligen Witze – dazu an, einzugestehen, was wir getan haben. Unsere Religion hält uns dazu an, zu schwören, es nicht wieder zu tun. Das Judentum fordert uns dazu auf, an Ritualen teilzunehmen, die dabei helfen sollen, das Fehlverhalten nicht zu wiederholen, und uns dann daran zu erinnern, was wir getan haben.
Manchmal würden wir lieber nicht zurückblicken, doch unsere Überlieferung lehrt uns, daß wir falsches Verhalten nicht einfach leugnen dürfen. Wir können nicht sagen: »Wenn heute eine Prüfung in Sachen Moral stattfinden würde, würde ich sie bestehen.« Wenn wir eine solche Prüfung gestern nicht bestanden haben, müssen wir das eingestehen. Nicht damit es heißt, wir hätten uns nicht verändert. Im Gegenteil: um zu zeigen, daß wir uns verändert haben.