von Elisabeth Abendroth
Der Hörsaal im Casinogebäude des IG Farben-Hauses war bis auf den letzten Platz besetzt mit Studierenden und Lehrenden der Frankfurter Goethe-Universität, mit Überlebenden des Holocaust und des Widerstands, mit Journalisten und Künstlern, als Arno Lustiger nach fünf Semestern als Gastprofessor am Fritz Bauer Institut seine letzte Vorlesung hielt. Das war am 19. Juli 2006, genau 70 Jahre nach Arno Lustigers Aufnahmeprüfung für das Gymnasium seiner Heimatstadt Bedzin.
Die Schuluniform, die ihm seine Mutter im Sommer 1936 zur bestandenen Prüfung schenkte, hat der damals Zwölfjährige nicht lange tragen können. Deutsche Truppen überfielen Polen. Im August 1943 wurde die jüdische Bevölkerung von Bedzin nach Auschwitz deportiert. Die Familie Lustiger, die sich vor der Deportation in einem Keller versteckt hatte, ging einige Tage später gemeinsam ins Zwangsarbeiterlager Annaberg in Schlesien, um dort zusammenbleiben zu können. Aber die Familie wurde auseinandergerissen. Der Vater, David Lustiger, wurde in Auschwitz ermordet, Arno überlebte die Lager Auschwitz-Blechhammer, Groß-Rosen, Buchenwald und Langenstein. Auf dem Todesmarsch konnte er fliehen. US-Soldaten fanden den vollkommen Entkräfteten und halfen ihm zurück ins Leben.
Eher durch Zufall kam der damals 21-Jährige 1945 als »Displaced Person« nach Frankfurt/Main, das zunächst als Zwischenstation auf dem Weg in die USA oder nach Israel gedacht war. Aber Arno Lustiger musste wegen seiner kranken Mutter und Schwester bleiben. Er baute als Textilfabrikant ein erfolgreiches Unternehmen auf und gehörte zu den Gründern der jüdischen Nachkriegsgemeinde in Frankfurt. Ihrer großen Tradition und Geschichte war eine der ersten von ihm edierten Publikationen gewidmet.
In den 80er-Jahren dann fand Arno Lus-tiger zu seinem Lebensthema, dem jüdischen Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Denn nicht »wie die Lämmer zur Schlachtbank« hatten sich die Juden Europas führen lassen – im Gegenteil, wo immer sie die Möglichkeit dazu fanden, haben sich jüdische Männer und Frauen gegen die Mörder zur Wehr gesetzt. In den Lagern war der junge Arno Lustiger ihnen begegnet, jüdischen Partisanen im Kampf gegen Hitlers Truppen, jüdischen Freiheitskämpfern aus dem Spanischen Bürgerkrieg. Als er 1984 einen Herzinfarkt erlitt, nahm Lustiger sich vor: Wenn ich das überlebe, werde ich die Geschichte der jüdischen Widerstandskämpfer aufschreiben, um sie dem Vergessen zu entreißen. Er überlebte und schrieb Schalom Libertad! Die Juden im Spanischen Bürgerkrieg. Diesem ebenso materialreichen wie spannenden Buch folgten unter anderem das Standardwerk Zum Kampf auf Leben und Tod. Das Buch vom Widerstand der Juden 1933-1945, dann das Rotbuch. Stalin und die Juden. Die tragische Geschichte des Jüdischen Antifaschistischen Komitees und der sowjetischen Juden über den stalinistischen Antisemitismus. Übersetzungen von Lustigers Werken erschienen in den USA, in Polen, Frankreich, Spanien und in Russland.
Ein Forscher im Elfenbeinturm ist Arno Lustiger dabei nicht geworden. Seit Jahren nimmt er an öffentlichen Demonstrationen und mit aktuellen Aufsätzen in der FAZ, der Welt und anderen Medien an vielen kontrovers geführten Debatten teil. Seine Rede zum Holocaustgedenktag im Deutschen Bundestag 2005 bleibt auch Jahre später beim Nachlesen bewegend und leider aktuell.
Arno Lustiger ist vielfach ausgezeichnet worden, unter anderem mit dem Bundesverdienstkreuz, der Wilhelm-Leuschner-Medaille des Landes Hessen und gemeinsam mit Wolf Biermann mit dem Heinz- Galinski-Preis. Er ist Ehrendoktor der Universität Potsdam und Ehrenprofessor des Landes Hessen. Ob die Auszeichnungen ihm geholfen haben, im Land der Täter heimisch zu werden? Seine Heimat ist, wie man aus dem Familienroman seiner Tochter Gila So sind wir schließen kann, nirgends und überall: in Israel, in Spanien, in Polen, in Frankreich – aber eigentlich wohl in Frankfurt, wo Arno Lustiger am 7. Mai seinen 85. Geburtstag feiern kann.