von Rabbinerin Gesa Ederberg
Eigentlich könnte ich es mir sehr einfach machen und sagen: Aus jüdischer Perspektive ist die ganze Diskussion ums Ladenschlußgesetz sowieso irrelevant. Noch hat keiner gefordert, die Läden in Deutschland rechtzeitig zu Sonnenuntergang am Freitag zu schließen und erst wieder zu öffnen, wenn am Samstag drei Sterne zu sehen sind. Und meine Kinder haben inzwischen verstanden, daß es auf dem Weg zur Synagoge eben kein Eis gibt, weil wir am Schabbat nicht einkaufen. Wer den Schabbat und den jüdischen Kalender beachtet, lebt sowieso antizyklisch – und das hat auch einen gewissen Reiz. Ich liebe es, an Jom Kippur durch die Straßen Jerusalems zur Synagoge zu gehen, und zu wissen, daß fast alle, die unterwegs sind, das gleiche Ziel haben. Ich liebe es aber genauso, auf dem Weg zur Synagoge in Berlin über den Ku’damm zu gehen, das Gewimmel zu sehen und davon unberührt Schabbat zu feiern. Und ehrlich gesagt, bin ich ganz froh, wenn mein Mann nach Schabbat-Ende noch einmal losflitzen kann, um das vergessene Geschenk für die Geburtstagfeier am Sonntag zu kaufen. Unser sechsjähriger Sohn wäre zu Recht sauer auf seine Eltern und vielleicht auch auf den Schabbat, wenn wir das Vergessene nicht nachholen könnten! Natürlich ist es bequem und praktisch, gerade für Berufstätige, wenn man jederzeit den Einkauf erledigen kann.
Gerade beim alten Ladenschlußgesetz kann es schon sehr kompliziert werden zu Pessach, wenn der Sederabend auf einen Dienstag fällt: Mittwoch und Donnerstag ist Pessachfeiertag, Freitag womöglich Karfreitag, dann Schabbat, dann Sonntag, dann Ostermontag und schließlich noch zwei Tage Chag zum Pessach-Ende: eine Woche voller einkaufsloser Tage!
»Sechs Tage sollst du arbeiten und deine ganze Arbeit getan haben. Und der siebte Tag ist Schabbat, er gehört dem Ewigen, deinem Gott. Du sollst überhaupt keine Arbeit tun, du, dein Sohn, deine Tochter, dein Diener oder deine Dienerin oder deine Tiere, oder der Ausländer, der in deiner Stadt wohnt.« So heißt es in der Tora, und so singen wir an jedem Schabbat im Kiddusch.
Wenn ich nicht Schabbat halten würde, hätte ich nicht erst jetzt kurz vor Abgabeschluß an diesem Artikel geschrieben, sondern wahrscheinlich schon den ganzen Samstag darüber nachgegrübelt. Häufig würden mein Mann und ich einander bitten, am Samstagnachmittag doch alleine mit den Kindern auf den Spielplatz oder in den Zoo zu gehen, weil diese oder jene Arbeit noch nicht erledigt sei: Putzen, Aufräumen, E-Mails beantworten, Artikelschreiben und so weiter. Die Arbeit ist nie erle- digt, der Schreibtisch nie wirklich leer geräumt. Der Druck, zu tun und zu machen, hört von selbst nie auf.
»We-assita kol melachtecha – du sollst deine ganze Arbeit getan haben« bedeutet eben nicht, daß wir bis zum Umfallen schuften sollen, sondern, so erklärt Raschi, der Kommentator aus dem 11. Jahrhundert: »Wenn Schabbat kommt, soll es in deinen Augen sein, als ob deine ganze Arbeit erledigt wäre – damit du nicht über die Arbeit nachgrübeln mußt.« Dazu brauchen wir den Rahmen, den die Halacha uns gibt, also ein jüdisches Arbeitsschlußgesetz, wie man es sich detaillierter nicht vorstellen kann. Ohne diesen Rahmen würde ich es nicht schaffen, am Schabbat wirklich nichts zu tun und statt dessen den Tag mit meinem Mann, meinen Kindern und Gott zu verbringen. Und auch wenn es im Text heißt »der Schabbat gehört Gott«, gebe ich zu, daß ich im normalen Alltag zwischen Beruf und Familie vor allem den positiven Effekt für die Familie spüre: Gemeinsam zu essen, Zeit füreinander zu haben, wenigstens einmal die Woche, ohne daß ich mir die Zeit freikämpfen muß, das gibt Kraft für eine normal-verrückte Woche.
Schabbat ist ein wunderbares Geschenk, und es ist schade, wenn Menschen ihn als Zwang erleben, als langweiligen Tag, an dem alles verboten ist. Wir leben im 21. Jahrhundert, und jeder ist für sich selbst verantwortlich, wie er oder sie es mit der Religion hält. Ich finde es unerträglich, wenn in Jerusalem unter »Schabbes, Schabbes«-Rufen Steine geworfen werden, und wenn Menschen vom Staat gezwungen werden, sich an religiöse Regeln zu halten, die ihnen nichts bedeuten.
Andererseits heißt es im Text eben nicht nur, daß »du« den Schabbat halten sollst, du und deine Kinder, sondern da ist auch die Rede von »Ewed« und »Schifcha«, von Sklave und Magd. Die persönlichen Abhängigkeiten der Menschen, die in der Antike die »servi«, die Sklaven, waren, gibt es heute zum Glück fast nicht mehr. Doch wie verhält es sich mit dem »Servicepersonal«, den Menschen im Niedriglohnsektor, auf deren Kosten ich nach Schabbat-Ende noch bequem einkaufen gehen kann? Meine Konsumfreiheit beschränke ich freiwillig. Die halachische Bindung schenkt mir innere Freiheit. Doch wer schützt die Grenzen derer, die auf den Verdienst angewiesen sind, und deren Familienleben durch Schicht- und Wochenendarbeit beschädigt wird?