von Julian Voloj
Carter Giacobini ist im Stress. Kommenden Sonntag soll in Cuscus das Jewish Historical Museum and Synagogue (JHMS) offiziell eröffnet werden. Der Kurator des neuen jüdischen Bildungszentrums steckt in den letzten Vorbereitungen. Skulpturen müssen richtig aufgestellt, ein paar Bilder noch aufgehängt werden. Der Fahrstuhl funktioniert noch nicht. Immerhin, die Synagoge ist bereits fertig. »Es gibt noch viel zu tun, aber bis zur Eröffnung wird alles fertig sein«, versichert Giacobini auf Anfragen aus Nessus, Choi und Mieum.
Cuscus? Nessus? Mieum? Choi? Wem die Namen wie aus einem Science-Fiction- Roman vorkommen, liegt nicht ganz falsch: Es handelt sich um virtuelle Orte im Second Life, einer dreidimensionalen Websimulation. Second Life ist eine virtuelle Welt der unbegrenzten Möglichkeiten, in der eine graue Maus zum Glamour-Girl wird und ein Couch Potato per Mausklick von Japan nach Paris reisen kann, ohne dabei seine Wohnung zu verlassen. Das in San Francisco ansässige Linden-Lab kreierte Second Life 2003. Seitdem hat sich die virtuelle Welt zu einem Phänomen entwi-ckelt, das die Online-Enzyklopädie Wikipedia mit den Anfängen des Internets vergleicht. Vergangenen Oktober begrüßte Second Life seinen millionsten »Einwohner«, nur acht Wochen später hatte sich die Zahl verdoppelt. Aktuell sind mehr als 3,5 Millionen Benutzer im Second Life re-gistriert – Tendenz steigend.
Schon haben Firmen wie Toyota und Reebok Second-Life-Filialen aufgemacht; Schweden plant, demnächst eine Botschaft zu eröffnen; der demokratische US-Präsidentschaftskandidat John Edwards macht hier virtuell Wahlkampf; die Bild-Zeitung hat mit AvaStar eine Second-Life-Ausgabe. Und natürlich gibt es wie überall auf der Welt Juden und jüdische Einrichtungen.
Angefangen hat alles mit Temple Beth Israel, einer Kreation der Künstlerin Beth Brown, die sich online Beth Odets nennt. Die Texanerin baute ihre Synagoge vergangenen August, noch vor dem großen Second-Life-Boom. »Zu dem Zeitpunkt gab es lediglich ein paar Hunderttausend Einwohner im Second Life«, erinnert sich die Dreiunddreißigjährige. Trotzdem hatte Temple Beth Israel schon einen Monat nach Errichtung über hundert Mitglieder aus aller Welt, von Brasilien bis in die Schweiz. »Ich war total überrascht von dem Erfolg der Synagoge«, sagt Brown-Odets, die seit sechs Wochen auch jeden Freitag virtuelle Kabbalat Schabbat-Zeremonien veranstaltet, zu denen Dutzende von Second-Lifern kommen. Nicht alle von ihnen sind Kinder Israels . Zu den Besuchern gehören auch neugierige nicht jüdische Second-Lifer, die das Judentum erkunden wollen. Geezer Yap zum Beispiel ist offline ein Mormone aus Arizona, Covita Punchinello eine spanische Katholikin und Angela Ge Muslimin: »Es ist das erste Mal, dass ich Judentum erlebe. Ich lebe in Bahrain und habe daher nie Juden getroffen. Im Second Life kann ich das Judentum als Kultur kennenlernen, hebräische Popmusik hören und mit Israelis chatten. Es ist einfach toll.«
Neben der Synagoge hat Brown-Odets inzwischen die Grundlagen für eine regelrechte jüdische Infrastruktur im Second Life errichtet. Vergangenen Oktober entstand die Talmud-Tora-Schule Beth Yeshiva, Ende Januar eine virtuelle Mikva. Momentan arbeitet Beth an weiterem »jüdi- schen Kram«, wie sie es nennt. Längst ist sie dabei nicht mehr die einzige jüdische Aktivistin in der virtuellen Welt. Reuven Fischer zum Beispiel, ein Lubawitscher aus der Nähe von Philadelphia, hat eine virtuelle Kopie der Jerusalemer Tempelmauer gebaut. Das heißt, nicht Fisher hat sie gebaut, sondern sein Avatar – so nennt sich die virtuelle Parallelidentität der Second-Life-Bewohner. Fishers Avatar heißt GruvenReuven Greenberg. An seiner Parallel-Kotel können Besucher seit Januar die wöchentliche Parascha herunterladen, sich über die Lehren Rabbi Menachem Mendel Schneersons informieren und sogar Zedakah üben, indem sie Linden Dollars, die virtuelle Second-Life-Währung, für Chabad-Projekte spenden. Das Ganze sei jedoch lediglich eine Eigeninitiative, versichert der Vierundvierzigjährige, und nicht etwa eine offizielle Chabad-Vertretung im Second Life. Noch nicht, wohl.
»Wenn man sich länger im Second Life aufhält, wird der Avatar immer mehr zu einem selbst und man fängt an, im Second Life nach einem Ort zu suchen, der einem wirklich etwas bedeutet«, erläutert der erfahrene Second-Life-Blogger Drown Pharaoh. So ging es auch Carter Giacobini, der nun das JHMS erbaut. »Zunächst war Second Life für mich nur Zeitvertreib, aber dann wollte ich etwas Sinnvolles finden.« Unterstützt von Beth Brown-Odets und anderen Second Lifern errichtet er jetzt sein eigenes jüdisches Zentrum, zu dem ein historisches Museum, eine Kunstgalerie, eine Holocaust-Gedenkstätte und eine zweite Synagoge gehören.
Für Carter, im wirklichen Leben Keith Dannenfelser, ein dreiunddreißigjähriger Designstudent aus Indiana, ist das Projekt eine Auseinandersetzung mit seiner eigenen jüdischen Identität. »Meine Mutter ist jüdisch, aber ich hatte keine jüdische Erziehung. Als Kind fühlte ich mich zwar immer jüdisch, aber erst als Erwachsener lerne ich wirklich etwas von jüdischer Kultur und Tradition.« Vor allem die Holocaust-Gedenkstätte, ein dreistöckiges Museum, in dem man Fotografien mit Begleit- texten findet, ist für Dannenfelser-Giacobini wichtig. »Ich hatte die Idee schon länger, aber war mir zunächst nicht sicher, ob Second Life der richtige Ort für ein Holocaust-Museum ist.« Das änderte sich, nachdem er Camp Darfur, ein Second-Life-Informationszentrum zum Genozid im Su- dan, entdeckte. »Ich war sehr beeindruckt und bewegt. Und mir war klar, dass ich eine Holocaust-Gedenkstätte hier errichten kann und will.«
Für den sechsundzwanzigjährigen Derek Goldman aus Austin/Texas – Avatar-Identität Avram Leven – könnte der Zeitpunkt für das virtuelle Holocaust-Mahn- mal nicht besser sein: »Die Überlebenden sterben aus und Holocaustleugner werden immer aggressiver. Jetzt ist der Zeitpunkt, um auf allen Ebenen zu informieren und zu unterrichten. Auch im Second Life.«
Goldman fühlt sich als jüdischer Second Lifer wohler als im wahren Leben: »Meine Heimatstadt Austin hat eine sehr große Gemeinde und man geht schnell in der Masse verloren. Hier im Second Life ist die Gemeinde viel kleiner und überschaubarer. Man hat ein richtiges Zusammengehörigkeitsgefühl.« Eine Gefahr, dass der rapide Zustrom von jüdischen Neulingen in die virtuelle Zweitwelt dieses Gemeinschaftsgefühl untergraben könnte, sieht Goldman nicht: »Im Gegenteil. Ich bin davon überzeugt, dass dies erst der Beginn von wunderbaren, kreativen neuen jüdischen Projekten hier im Second Life ist.«