von Baruch Rabinowitz
und Julia Uraktschejewa
Tiefe Nacht liegt über der Stadt am Schwarzen Meer als um 3.19 Uhr aus dem fernen Guatemala-Stadt die sensationelle Nachricht kommt. Der russische Badeort Sotschi wird die 22. Olympischen Winterspiele 2014 ausrichten, als erste russische Stadt überhaupt. 30.000 Menschen hatten auf dem Theaterplatz von Sotschi bis in den frühen Morgen ausgeharrt und verfolgten auf zwei riesigen Bildschirmen die Live-Übertragung des russischen Fernsehens. Als der IOC-Präsident Jacques Rogge den Briefumschlag öffnete und den Namen Sotschi nannte, ging ein Jubelschrei durch die Menge.
Schon den ganzen Vortag über feierte Sotschi bei Temperaturen um die 30 Grad die Winterspiele, als ob es keinen Zweifel an der Entscheidung des Olympischen Komitees geben könne. Tausende weißer Luftballons mit der Aufschrift »Sotschi 2014 – Zusammen gewinnen wir« verstopften die Straßen und Plätze. In der Stadt wurden kleinere Sportwettkämpfe ausgerichtet, mangels Schnee im Hochsommer verlegte man sich dabei auf Schach-Spielen und Laufwettbewerbe. Auf zwei Bühnen traten Musikgruppen auf. Außerdem wurde das Publikum Zeuge der ersten Fußballweltmeisterschaft für Künstler und Schauspieler. Teams aus 16 Ländern traten an. Deutschland wurde unter anderem von der schwarzhaarigen Modern-Talking-Hälfte Thomas Anders repräsentiert. Der erste Preis ging allerdings standesgemäß an Brasilien.
Am frühen Morgen lagen sich dann alle in den Armen, die wenigen »Ureinwoh-ner« und tausende von russischen Touristen, die es alljährlich im Hochsommer an die russische Riviera drängt und die die Bevökerungszahl der Stadt auf ein Zehnfaches anschwellen lassen. »Wir haben gewonnen! Russland hat gewonnen!«, hallten Sprechchöre durch die Straßen. Hunderte tanzten an der Schwarzmeer-Küste in den anbrechenden Morgen hinein.
Auch die jüdische Gemeinde jubelt. »Es ist eine sehr große Freude für uns alle«, sagt Tatiana Vershinkina, Geschäftsführerin der 3.ooo-köpfigen Gemeinde. »Wir sind in Sotschi zu Hause und werden an der Feierlichkeit aktiv teilnehmen«, versichert Vershinkina. Sie selber wird jedoch die Olympischen Spiele in ihrer Heimatstadt nicht miterleben können, denn noch in diesem Jahr will sie nach Deutschland auswandern.
Kaum ist die Entscheidung gefallen, überlegen Gemeindeführung und Rabbiner Arie Edelkopf, was die Synagoge den zahlreichen jüdischen Gästen, die im Zuge der Olympischen Spiele zu erwarten sind, anbieten kann. Die nach eigenen Angaben strengreligiöse Gemeinde verfügt bereits über einen Internet-Club und eine koscheren Kantine. Sie sollen für das Sportereignis renoviert und wahrscheinlich, so Vershinkina, sogar umgebaut werden. »Wir erwarten viele jüdische Touristen die wir in der Synagoge empfangen wollen. Wir heißen sie alle herzlich in Sotschi willkommen.«
Vor allem aber kümmert sich die Gemeinde um die spirituellen Bedürfnisse ihrer Besucher. So finden das ganze Jahr hindurch regelmäßig Schabbat-Gottesdienste statt, ebenso an allen jüdischen Feiertagen. Selbst im Hochsommer, wenn in den anderen Städten die meisten Synagogen wegen der Sommerpause schließen, ist die Gemeinde in Sotschi zu beneiden. Dank der vielen jüdischen Urlauber sind die Gottesdienste noch besser besucht als im Winter. Auch in die Jugendarbeit investiert die Schwarzmeer-Gemeinde, sodass sich auch die kleinen Gäste in der Synagoge nicht langweilen müssen.
»Ich fühle mich sehr wohl in der Stadt und in der Gemeinde«, sagt der Geschäftsmann Yossi Alperovitsch, der in Sotschi geboren ist. »Es gibt zwar viel Kriminalität, so wie in vielen Kurorten, aber Antisemitismus habe ich hier noch nie erlebt.« Auch er freut sich, dass seine Stadt die Winterspiele austragen wird. »In Sotschi leben sehr offene und lebensfrohe Menschen. Das liegt wohl am Wetter. Die Gäste, egal woher sie kommen, werden mit uns bestimmt sehr viel Spaß haben«, sagt Alperovitsch.
Diesen Standortvorteil machte sich auch der prominenteste Fürsprecher der Spiele am Schwarzen Meer, Staatspräsident Wladimir Putin, zunutze. Monatelang ließ Putin keine Gelegenheit aus, Staatsgäste in seine Sommerresidenz nach Sotschi einzuladen. Während des Besuchs der IOC-Inspektoren im März posierte er demonstrativ als Wintersportler im 70 Kilometer entfernten Krasnaja Poljana, dem teuersten russischen Skigebiet im Kaukasus. Hier sollen alle Skiwettbewerbe ausgetragen werden, auch wenn der Ort bisher noch kein einziges international bedeutendes Skirennen gesehen hat.
Die Entscheidung des IOC setzt in den kommenden sieben Jahren ein gigantisches Aufbauprogramm in Gang. Neun Milliarden wollen sich der russische Staat und private Investoren das Abenteuer Olympia kosten lassen. Und diese sind auch nötig, denn bislang existieren die meisten olympischen Stätten nur als 3D-Animation. Wo künftig der Eispalast stehen soll, ist heute nur ein brachliegendes Feld und ein Dorf. Insgesamt elf olympische Komplexe sollen gebaut werden, womit Sotschi zur größten Baustelle in der Geschichte der Winterspiele wird.
Großes Interesse an Olympia in Sotschi haben neben dem Präsidenten und den Sportlern auch die großen Konzerne in Russland. Rund 40 Prozent der geplanten Investitionen werden privat finanziert. Gazprom und die Investmentgesellschaft Interros engagieren sich intensiv in Skiort Krasnaja Poljana, Aluminium-Magnat Oleg Deripaska ist seit einigen Monaten im Besitz des gerade ausgebauten Flughafens. Die Investoren konkurrieren um jedes Objekt, sagt German Gref, der Minister für wirtschaftliche Entwicklung. Das lässt die Grundstückspreise steigen.
Olympia wird zum großen Geschäft: In Imeretinskaja Dolina, einem 6.000 Seelen-Dorf an der georgischen Grenze ohne Gas und ohne Infrastruktur, kostet der Quadratmeter bereits mehr als 400 Euro. Es sind vor allem wohlhabende Moskauer, die sich in und um Sotschi Villen mit Blick aufs Meer bauen. Das ehemalige sowjetische Sanatorium Rodina wurde zu einem Grand Hotel umgebaut, in dem eine Nacht durchschnittlich 1.000 Euro kostet.
Das alles schreckt die Einwohner nicht. Nach Umfragen stehen angeblich 86 Prozent der Bevölkerung von Sotschi hinter der Olympia-Bewerbung. Weniger glücklich sind Naturschützer, die befürchten, dass der Bau der olympischen Stätten den zum UNESCO-Weltnaturerbe gehörenden Nationalpark Westkaukasus schädigen wird. »Die Olympiade dient als Vorwand für die Bebauung der einzigartigen Wälder«, erklärte die russische Sektion von Greenpeace. Die Organisation hatte gegen die Ausbaupläne vor Gericht geklagt. Der für Olympia verabschiedete Generalplan sei rechtswidrig, da keine Umweltgutachten angefordert worden seien, argumentierte Greenpeace. Doch das Gericht wies die Klage ab.